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„Was machen eigentlich Kinderspitäler?“ – eine Bestandsaufnahme der Spitalpädiatrie Kindermedizin oder Medizin für kleine Erwachsene?

In Zusammenarbeit mit PD Thomas Riedel, Chur, Prof. Maren Tomaske, Zürich, Dr. med. Rodo von Vigier, Biel, Dr.med. Valdo Pezzoli, Lugano

Die Bestandsaufnahme der Aufgaben der Kinder- und Jugendmedizin in den Kinderspitälern und Kinderkliniken dient der Weiterentwicklung der Strukturen und davon abgeleitet der Tarifierung.

In einer kleinen Arbeitsgruppe haben wir uns dieser Frage gestellt. Die Unterschiede zur Erwachsenenmedizin und zur kinderärztlichen Praxis herauszuarbeiten war unser Anliegen. Nicht unser Anliegen war es auf den Bereich der Forschung in den Spitälern einzugehen, obwohl die Forschung weitgehend in den Spitälern stattfindet und diese die Kindermedizin wesentlich voranbringt. Der Grund für den Ausschluss liegt in der Abgrenzung der Kostenträger: Dort die Fördermittel, da die Krankenkassen.

Zur Abgrenzung von der Grundversorgung in der Kinderarztpraxis sprechen wir in den Kinderspitäler und Kinderkliniken von der „spezialisierten Kinder- und Jugendmedizin“.  

Als Leiterin der Allianz Kinderspitäler der Schweiz (AllKidS)1) konnte ich viele Daten der drei eigenständigen Kinderspitäler in St. Gallen, Zürich und Basel analysieren. Diese  Zahlen sind  reine „Kindermedizinzahlen“. Sie gelten weitgehend analog für die grossen in Gesamtspitäler integrierten Kinderkliniken der Schweiz, nicht jedoch für die Gesamtbetriebsrechnung. Über kleinere Kinderkliniken liegen leider nur wenige Daten vor.

Kinder sind unsere Zukunft und verdienen unsere volle Aufmerksamkeit und Zuwendung

Trotz dieses unumstrittenen Grundverständnisses gibt es immer wieder Themenbereiche, bei welchen sich Anspruch und Wirklichkeit nicht so decken, wie wir uns das wünschen würden. Die Verfügbarkeit von Mitteln für die medizinische Versorgung von Minderjährigen, die immerhin 20 % der Bevölkerung ausmachen, ist ein solcher Bereich. Dahinter steckt nicht böser Wille, sondern die Macht des Faktischen. Es braucht schlicht mehr Medizin für Erwachsene als Kindermedizin. Darum richten sich unsere Tarifsysteme für ärztliche und therapeutische Leistungen primär nach den Erwachsenen. Das gilt auch bei den beiden Schwergewichten Swiss DRG (stationär) und TARMED (ambulant). Kinder mutieren hier schnell zu „kleinen Erwachsenen“ bzw. zu den Ausnahmen im System und werden in den Tarifsystemen entsprechend ungenügend abgebildet. Doch Kinder sind anders.

Diese Andersartigkeit zieht sich durch die gesamte Kinder- und Jugendmedizin hindurch, akzentuiert sich jedoch in den spezialisierten Kinderspitälern und zeigt sich an den Finanzzahlen der drei AllKidS-Spitäler am eindrücklichsten, denn es  besteht hier eine klare Abgrenzung zur Erwachsenenmedizin. Die drei Spitäler kümmern sich ausnahmslos um Kinder und Jugendliche, sind Endversorgerspitäler, wie alle grossen Kinderkliniken der Schweiz, und leisten damit rund 30 % der stationären Versorgung für Kinder.

Die Arbeit in Kinderspitälern ist primär ambulant und schwer defizitär

Entgegen der allgemeinen Erwartung, die Versorgung in einem Spital erfolge primär stationär, trifft dies auf die AllKidS-Spitäler nur bei 5 von 100 Konsultationen zu; 95 % ihrer Patientenkontakte erfolgen ambulant. Bei den Erlösen sieht das Bild hingegen ganz anders aus. „Nur“ 30 % der Erlöse stammen aus dem ambulanten Sektor, 70 % der Einnahmen generieren die AllKidS-Spitäler im stationären Bereich (Swiss DRG), wobei die Hälfte von den Krankenversicherern sowie von der IV getragen wird. Aufgrund der Entschädigungspraxis erzielen die AllKidS-Spitäler im ambulanten Bereich des Tarmed einen Kostendeckungsgrad von rund 70 % (30 Rappen Verlust pro Franken erbrachter Leistung) und im stationären Bereich von rund 95 % (5 Rappen Verlust pro Franken). Diese Verluste werden nur darum nicht zu einem existenziellen Problem, weil die Kantone einen Versorgungsauftrag haben und die Kinderspitäler subventionieren. Zudem werden zahlreiche Investitionen über Spenden finanziert. Fakt bleibt aber: Kinderspitäler leiden unter strukturellen Defiziten; integrierte Kinderkliniken müssen über die Erwachsenenmedizin quersubventioniert werden.

Zahlreiche Beispiele unterstreichen, dass spezialisierte Kinder- und Jugendmedizin anders ist

Was steckt genau hinter diesen Defiziten? Ist es mangelnde Effizienz? Liegt es an den durch Politik und Tarifpartnern definierten Tarifstrukturen? Oder sind die Versicherer (Krankenkassen und IV) einfach zu knausrig bzw. dank ihrer überwältigenden Einkaufsmacht nicht bereit, einen fairen Preis für die erbrachten Leistungen zu bezahlen? Diese Fragen sind von wesentlicher Bedeutung. Denn je nach dem ist der Hebel an einem anderen Ort anzusetzen. Klar ist: Auch wenn Organisationen immer noch effizienter sein können, haben die Kinderspitäler kein ausserordentliches Effizienzproblem (Polynomics-Studie von 20172)). Die Ursachen für die finanziellen Probleme liegen primär auf Ebene der Tarifstruktur und der Preisfestsetzung. Unter dem steigenden Kostendruck bzw. dem Versuch, steigende Kosten mit linearen Kürzungen „von oben herab“ einzudämmen, werden Kinder tariflich mehr und mehr wie kleine Erwachsene behandelt. Das ist fatal, denn Kindermedizin ist anders.

Kindermedizin ist anders, weil die Patienten nie allein kommen

Kindermedizin ist anders, weil Kinder Kinder sind – so banal dies klingen mag, die Interaktion und Kooperation mit einem Kind ist von seinem Entwicklungsstand und seinen Begleitern abhängig; das Kind ist weitgehend wehrlos und daher besonders schutzbedürftig.

Kinder kommen in der Regel in Begleitung. Das erhöht den Bedarf und die Anforderungen an die Betreuung massiv. Dies umso mehr, als die Eltern (völlig zu Recht) sehr kritisch hinterfragen, was Pflegepersonal und Ärzte ihrem Kind im Spital alles zumuten. Dazu kommt: Bei Kindern ist immer ein emotionaler Beziehungsaufbau nötig. Vor jeder Behandlung muss bei einem Kind die Kooperationsfähigkeit aktiv hergestellt werden. Dazu braucht es vielfach mehrere Anläufe. Das ist nur bedingt eine Frage des Alters, wie erfahrene Kinderärzte wissen, vielmehr aber seinem Entwicklungsstand und seiner Vorbereitung auf die Situation geschuldet.

Kindermedizin ist anders, weil die spezialisierte Medizin sich auf die Spitäler konzentriert

Kindermedizin ist anders, weil die spezialisierte Medizin sich auf die Spitäler konzentriert. Dies im Unterschied zur Erwachsenenmedizin, bei welcher viele Spezialisten in der Praxis tätig sind. Als „Minderheitenmedizin“ war die spezialisierte Kinder- und Jugendmedizin früh zu Effizienz gezwungen und hat sich ohne Druck seitens Politik und Behörden stark zentralisiert.
Die spezialisierte Kindermedizin in der Schweiz zählt sechs Zentrumsspitäler der höchsten Versorgungsstufe (Basel, Bern, Genf, Lausanne, St. Gallen und Zürich). Diese sechs Spitäler decken 65 % der stationären Kinder- und Jugendmedizin ab. Neben diesem Spitzen-Sextett gibt es sechs weitere Kinderkliniken mit einer hohen Versorgungstufe aber einer etwas geringeren Spezialisierung (Kantonsspitäler Aarau, Graubünden, Fribourg, Luzern, Sion und Winterthur), die weitere 25 % der stationären Versorgung für Kinder und Jugendliche leisten. Die übrigen 10 % der stationären Versorgung werden von kleineren Kinderkliniken und auch von Spitälern ohne Infrastruktur für Kinder und Jugendliche versorgt (Abbildung 1).

Abbildung 1:
Verteilung der stationären Patienten bis zum 18. Lebensjahr auf die Spitäler der Schweiz.

Kindermedizin ist anders, weil sie aufgrund ihrer starken Zentralisierung auch stark vernetzt ist bzw. weil sie als „Minderheitenmedizin“ besser als die Erwachsenenmedizin vernetzt sein muss

Aufgrund der hohen Diversität der meist angeborenen Krankheitsbilder ist die Vernetzung mit ausgewiesenen SpezialistInnen im In- und Ausland eine Grundvoraussetzung für eine gute Kindermedizin. Da die Anzahl SpezialistInnen im Land gering ist, kennt und hilft man sich in der Regel gegenseitig aus: in fachlicher Diskussion, für Ferienvertretungen, etc. Ein tagesaktuelles online-Tool zeigt die freien Kapazitäten der neonatologischen Abteilungen der Schweiz transparent auf, um die Triage der werdenden Mutter bei drohender Frühgeburt in ein Zentrumsspital mit genügend Ressourcen ohne grosse Organisation zu ermöglichen. Es kommt oft vor, dass es für eine spezifische medizinisch-therapeutische Anforderung nur wenige weit im Land herum verstreute Spezialistinnen und Spezialisten gibt. Die kleinen Patienten werden daher entweder dorthin verlegt oder die Ärztin reist in das entsprechende Spital. In besonderen Fällen werden daher Patienten gleichzeitig durch mehrere Zentren betreut.  Die Kollegialität ist sehr gross geschrieben, ist man sich seiner Begrenztheit doch sehr bewusst, insbesondere bei Patienten mit komplexen Krankheiten oder besonderen Krankheitsverläufen.

Kindermedizin ist anders, weil sogenannte Seltene Krankheiten hier eine zentrale Rolle spielen

Seltene Krankheiten manifestierten sich in drei von vier Fällen im Kindesalter. Sie sind in der spezialisierten Kindermedizin also alles andere als selten. Im Gegenteil: Seltene Krankheiten sind der Alltag in den Kinderspitälern, die einzelne Krankheit aber bleibt selten – auch für die Spezialisten – und stellen eine besondere Herausforderung für die Kinderspitäler dar. Sie  haben einen erheblichen Einfluss auf den Therapie- und Betreuungsaufwand, der in den Tarifsystemen berücksichtigt werden müsste. Das gilt in ganz besonderem Masse für die drei AllKidS-Spitäler. Im Schnitt ist hier jede dritte Konsultation einer der 8’000 bekannten Seltenen Krankheiten zuzuordnen.
Die Behandlung seltener Krankheiten findet nicht nur in den eigenständigen Kinderspitälern statt. Auch alle anderen Kinderkliniken behandeln Kinder mit Seltenen Krankheiten. Die Universitätsspitäler Genf, Lausanne oder die Inselgruppe Bern weisen in ihren Kinderkliniken vermutlich ähnlich viele Fälle mit Seltenen Krankheiten auf und sind medizinisch und tarifarisch ebenso herausgefordert wie die AllKidS-Spitäler. In der gesamtbetrieblichen Betrachtung hat das Tarifproblem in Genf, Lausanne und Bern aber viel weniger Gewicht.

Früh wurden Register und Protokolle erstellt, um den Krankheitsverlauf zu verfolgen und damit die Qualität zu verbessern

Legendär sind die Studienprotokolle der Pädiatrischen Onkologie. Fast alle Kinder mit einem Krebsleiden sind Teil eines Studienprotokolls. So können fortwährend die besten Therapien rasch erkannt werden. Der Erfolg der Pädiatrischen Onkologie über die letzten 30 Jahre gibt diesem Vorgehen recht: Kinderkrebs ist heute in den meisten Fällen langfristig heilbar.
Das „minimal neonatal data set“  dient ebenfalls der Qualitätskontrolle. Fast 100 % der extremen Frühgeborenen sind dort anonymisiert aufgenommen. Die Zentren vergleichen sich untereinander und analysieren gemeinsam, was dazu führen könnte, dass das eine Zentrum in einem Bereich besser ist als das andere. Hier wird zwischen den Kliniken mit höchster Transparenz in einer vertrauensvollen Umgebung und ohne Blaming Qualität erarbeitet. Auf diese Weise hat es die Neonatologie der Schweiz qualitativ auf ein international sehr hohes Niveau gebracht.

Kindermedizin ist anders, weil Kinder weniger Reserven haben und es dadurch viele Notfälle gibt

Überdurchschnittlich exponiert sind die Kinderspitäler und Kinderkliniken auch im Notfall. Zwischen 60 bis 80 % der stationären Eintritte kommen über die Notfallstation. Notfälle sind nur bis zu einem gewissen Masse planbar. Um eine Unterversorgung zu vermeiden, braucht es deshalb mehr Reserve und Vorhalteleistungen. Dazu kommt, dass Kindermedizin starken saisonalen Schwankungen unterliegt. So gibt es in den Wintermonaten in den Notfallstationen der Kinderspitäler und Kinderkliniken viel mehr Kinder mit akuten und rasch einmal lebensbedrohlichen Atemwegserkrankungen oder mit Magen-Darm-Grippe. Aufgrund der Physiologie des kindlichen Körpers dekompensieren Kinder viel leichter als Erwachsene. Daher ist eine rechtzeitige und rasche Intervention besonders wichtig. Vermehrt landen Notfälle auch in den Kinderspitälern, weil sich die Servicezeiten kinderärztlicher Praxen den Büro-Öffnungszeiten angeglichen haben. Auch dieser gesellschaftliche Trend trägt dazu bei, dass gut jede sechste Konsultation (15 %) in den AllKidS-Spitälern ein Notfall ist; in den kleineren Kinderkliniken ohne spezialisierte Sprechstunden ist dieser Anteil noch wesentlich grösser. Gerade diese Kliniken dienen ausserhalb der Praxisöffnungszeiten als sehr wichtige Anlaufstelle für kranke Kinder und Jugendliche.

Kindermedizin ist anders bezüglich Medikation

Die Medikation ist eine zentrale Säule jeder medizinischen Therapie. Bei Kindern ist sie z.T.  sehr schwierig und aufwändig. Während man Erwachsenen eine Ration von 3 Tabletten pro Tag verschreibt (morgens, mittags und abends), gestaltet sich das bei Kindern je nach Alter- und Gewichtsklasse sehr viel komplexer. Insbesondere bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern müssen Medikamente zuerst immer individuell auf Alter und Gewicht umgerechnet und entsprechend verdünnt werden. Je nach Alter ist die Physiologie anders und es bedarf höherer oder tieferer Dosierung als beim Erwachsenen, in jedem Fall aber eine gewichtsadaptierte Dosierung. Diese Arbeit ist aufwändig, weil hauptsächlich Handarbeit sowie kompliziert und fehleranfällig, weil jeder Fall aufs Neue individuell umgerechnet werden muss. Dazu kommt, dass auch die Kadenz und Dauer der Verabreichung schwankt. Bei Neugeborenen kann es vorkommen, dass man ein massiv verdünntes Medikament (1:20) in einer Kleinstmenge (0,2 ml) als Kurzinfusion über 30 Minuten verabreichen muss, damit der kleine Körper das verarbeiten kann.
Als galenische Form eignen sich Tabletten bei Kindern nur selten. Daher sind Patienten und Ärzteschaft auf eine kindgerechte Darreichungsform angewiesen. Viele Pharmaunternehmen verzichten jedoch auf die Entwicklung einer solchen, weil der Markt der Kindermedizin klein und die Marche für die Unternehmen uninteressant ist.
Viele Medikamente machen den KinderärztInnen zusätzlich aufgrund regulatorischer Eingriffe Schwierigkeiten: viele Pharmaunternehmen lassen die kindgerechte Darreichungsform in der Schweiz nicht zu, da der hiesige Markt winzig und die Hürden der Swissmedic hoch sind. Dies bedeutet, dass die Medikamente im Ausland besorgt werden müssen oder durch die Spitalapotheke selbst eine Suspension hergestellt wird. Beides ist dann ein sogenannter off-label use und muss von der Krankenkasse nicht übernommen werden. Ein Teil der Medikamente berappen die Eltern selbst, bei teuren Medikamenten beginnt dann ein administratives Hickhack mit den Kostenträgern. Spitäler und /oder Familien bleiben auf ungedeckten Kosten sitzen. Das ist in den Kinderspitälern und Kinderkliniken Alltag.

Kindermedizin ist anders in Bezug auf den benötigten Gerätepark

Spezialisierte Kinderspitäler müssen für Menschen mit einer Grösse von 25 bis 200 Zentimetern und einem Gewicht von 0,3 bis 120 Kilogramm ausgelegt sein. Dass diese Geräte teuer sind und sich wegen tiefer Fallzahlen weniger amortisieren lassen, liegt auf der Hand. Überraschend im Vergleich zur Erwachsenenmedizin ist auch, dass der Anteil manueller Unterstützung beim Einsatz hochmoderner Geräte sehr hoch sein kann. Zum Beispiel während eines MRI bei einem kleinen Neugeborenen. Eine solche Untersuchung kann gut und gerne eineinhalb Stunden dauern und erfordert nicht nur die permanente Anwesenheit der zuständigen medizinisch technischen Assistenz, sondern auch der Radiologen, die während des MRI die Qualität der Sequenzen beurteilen müssen, um weitere Sequenzen bzw. Wiederholungen anzuordnen, denn nicht immer hält das Kind ruhig. Zusätzlich braucht es den ebenso langen Einsatz eines Assistenzarztes, der z.B. das kleine Kind während des MRI „von Hand“ beatmen muss, weil für den sehr seltenen Fall eines Frühgeborenen-MRI sich die Anschaffung eines hochmodernen, MRI-tauglichen Beatmungsgerätes nicht lohnt. Parallel dazu macht eine weitere Person die notwendige Narkose. Der Aufwand ist bei fast allen radiologischen Untersuchungen weit höher, als in der Erwachsenenmedizin, die Tarife sind jedoch die gleichen. Die Kostendeckung ist damit nicht gegeben.

Reduced to the optimum

Seit Jahrzehnten zeichnet sich die Behandlung von Kinder und Jugendlichen durch dieses Paradigma aus. Jede Analyse, Blutentnahme, Röntgenaufnahme, etc. wird genauestens abgewogen und nur das absolut notwendigste untersucht. Eine unnötige Untersuchung könnte dem wachsenden Körper schaden und es könnte beim Kind unnötigen Stress verursachen, was bleibende Folgen haben kann. Gleiches gilt für die Therapien. Doch genau diese Reduktion auf das Wesentliche verlangt sehr hohe Fachkompetenz und ein hohes Mass an Supervision, Interdisziplinarität und Interaktionsvermögen. Das gibt es nicht umsonst.

Kinderspitäler bilden aus

Die Weiterbildung der Assistenzärzte findet hauptsächlich in den Kinderspitälern/-kliniken statt. Die Finanzierung der Weiterbildung in der Praxis ist oft nicht geklärt. Die qualifizierte Weiterbildung bindet in den Spitälern erhebliche Ressourcen. Diese Kosten werden nur zu einem geringen Teil durch die Kantone getragen. In den Tarifsystemen sind sie nicht berücksichtigt; besonders im ambulanten Tarif werden die Spitäler gegenüber den Praxen dadurch deutlich schlechter gestellt. In Spitälern, die vornehmlich ambulante Patienten betreuen (95 % der Konsultationen in den AllKidS-Spitälern), ist dies besonders prekär.
Die drei AllKidS-Spitäler versorgen die meisten Patienten jedoch ambulant und leisten damit gleichzeitig einen sehr wichtigen Tribut an die qualitativ hochstehende Weiterbildung der KinderärztInnen.
Auch die Weiterbildung der Fachpflege und der Therapeuten geschieht fast ausschliesslich in den Kinderspitälern und Kinderkliniken. Die Bedürfnisse in der Pflege von Kindern unterscheiden sich in vielen Belangen wesentlich von den Erwachsenen, ebenso die Medizin, der Umgang mit Eltern, etc. alles muss nachgeschult werden und bindet ebenfalls Ressourcen.

Tarife setzen Spitäler gewollt unter Druck

Die 2012 eingeführten DRG-Fallpauschalen setzen alle Spitäler finanziell unter Druck. Das ist politisch gewollt, um die Anzahl Spitalbetten zu reduzieren. Allerdings gilt dieses Ziel nicht für die spezialisierte Kindermedizin, hat sie sich die letzten Jahre doch von selbst immer stärker in eine ambulante Medizin gewandelt. Basis dazu war die Erkenntnis, dass die häusliche Umgebung für den Heilungsprozess der Kinder das Beste ist. Gleichzeitig ermöglicht die Wissenschaft bzw. der damit verbundene medizinische Fortschritt oft den Schritt in eine ambulante Therapie. 

Bereits bei der Einführung von DRG zeichnete sich aber ab, dass die spezialisierte Kindermedizin finanziell stärker tangiert werden würde, weshalb den AllKidS-Spitälern zunächst grundsätzlich höhere Basispreise zugestanden wurden. In den integrierten Kinderkliniken führte der DRG-Katalog indes zu einer deutlichen Unterfinanzierung der Kinderabteilungen, die betrieblich querfinanziert werden müssen. Die Folgen sind bereits sichtbar: Reorganisationen zurück in die Erwachsenendisziplinen, Einschnitte beim Personal, Investitionsstau und verlangsamte Weiterentwicklung.

Eine weitere Verschärfung der finanziellen Mittel wurden den Kinderspitälern und Kinderkliniken mit den beiden Eingriffen des Bundesrates in den ambulanten Arzttarif TARMED auferlegt: 2014 wurden die ohnehin zu tief tarifierten technischen Leistungen der Kindermedizin noch schlechter vergütet.

Mit dem auf 2018 in Kraft gesetzten TARMED-Eingriff entstanden allein den AllKidS-Spitälern neben den bereits bestehenden DRG-Defiziten zusätzlich massive Fehlbeträge. Zwar war der Bundesrat bei seinem Tarifeingriff dem Anliegen von FMH und H+ in der Kindermedizin ein wenig entgegengekommen und hat insbesondere die Zeitlimitationen entgegen einer ersten Absicht gelockert. Aber das änderte letztlich nichts daran, dass im allgemeinen Spareifer ein wohl unbeabsichtigter Kollateralschaden in der Kindermedizin der Spitäler entstand.

Korrekturbedarf vorhanden – Zeit zu handeln

Zum Glück ist die Bereitschaft gross, für das Wohl der Kinder die nötigen Mittel letztlich immer frei zu setzen. Aber einem hochgelobten Gesundheitswesen wie dem der Schweiz stünde es gut an, die medizinische Versorgung ihrer minderjährigen Bevölkerung auf sachgerechte Standards und kostendeckende Tarife abzustützen. Dabei dürfen selbstverständlich auch in der Kindermedizin Effizienz und ein haushälterischer Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln erwartet werden. Aber wenn trotz Effizienz und Kostenbewusstsein systematische Unterdeckungen bestehen und damit Qualitätseinbussen drohen, besteht Korrekturbedarf. Denn in einer langfristigen Vollkostenbetrachtung wirken Sparanstrengungen am falschen Ort kontraproduktiv. Eine gute Gesundheit der Kinder und ihrer Eltern ist letztlich die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Integration und Bildung. Durch eine angemessene Unterstützung von Familien lassen sich Folgekosten bezüglich Sozialbedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Straffälligkeit nachweislich vermeiden3). Darum sei der Anfangssatz dieses Artikels hier nochmals zitiert:

Kinder sind unsere Zukunft und verdienen unsere volle Aufmerksamkeit und Zuwendung – aber auch die nötigen Geldmittel!

Referenzen

  1. Die Allianz Kinderspitäler der Schweiz (AllKidS ) ist die Vereinigung der eigenständigen Kinderspitäler der Schweiz: Ostschweizer Kinderspital St. Gallen, Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB, Universitätskinderspital Zürich. www.allkids.ch
  2. Theoretische und empirische Analyse zu den Mehrkosten der Kinderspitäler unter SwissDRG https://www.swissdrg.org/application/files/8515/1325/7799/Polynomics_Fallkostenanalyse_Kinderspitaeler_Schlussbericht.pdf
  3. Marmot; Fair society, healthy lives. The Marmot Review. Strategic review of health inequalities in england post-2010 ; 2010, www.ucl.ac.uk/marmotreview
    Measuring socioeconomic adversity in early life.  Anand KJS1,2, Rigdon J3, Rovnaghi CR1,2, Qin F3, Tembulkar S2, Bush N4, LeWinn K4, Tylavsky FA5, Davis R6, Barr DA1, Gotlib IH7. Acta Paediatr. 2019 Jan 7. doi: 10.1111/apa.14715


Der Artikel basiert auf zwei Workshops mit den genannten ChefärztInnen und dem Referat, das Agnes Genewein am DRG-Forum Schweiz–Deutschland am 24. Januar 2019 in Bern gehalten hat.

Über die Autorin

Seit 2013 leitet Dr. med. Agnes Genewein die Allianz Kinderspitäler der Schweiz und arbeitet als Neonatologin am Universitäts-Kinderspital beider Basel, wo sie auch diverse Managementaufgaben inne hat. Agnes Genewein hat in Fribourg, Bern und Sydney studiert. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neonatologie. Ein Master in Applied Ethics (Universität Zürich) und ein Master of Business Administration (HSG) runden ihr Profil ab. 

Der Inhalt dieses Artikels widerspiegelt die Auffassung der Autorin und deckt sich nicht zwingend mit der Meinung der Redaktion oder der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Agnes Genewein, Gesschäftsführerin AllKidS