Gleichzeitig vorliegende organisch bedingte und funktionelle Symptome bei ein- und derselben Person verstehen und behandeln.
Dieser Artikel enthält Auszüge eines Vortrags, der am Jahreskongress der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin am 14. September 2023 in Biel gehalten wurde.
Klinische Vignette
Ein dreizehnjähriger Junge wird bei uns vorstellig vier Wochen nach einer typischen Episode einer febrilen viralen Gastroenteritis mit günstigem Verlauf unter ambulanter Behandlung ohne Antibiotika. Jetzt klagt er über fluktuierende und nicht einzuordnende Bauchschmerzen, gelegentliche Entleerungen von flüssigem Stuhl ohne Blutbeimengung, alternierend mit normalem Stuhl. Aus diesem Grund habe er zwei halbe Tage in der Schule und mehrere Sporttrainings verpasst. Die Mutter ist besorgt.
Es handelt sich um einen Teenager in gutem Allgemeinzustand und mit klinischem Normalbefund, insbesondere im Bereich des Abdomens. Laut den Ergebnissen der paraklinischen Untersuchungen liegen weder Anämie noch ein systemisches Entzündungszeichen vor, das fäkale Calprotectin ist normal.
Postinflammatorische und posttraumatische funktionelle Syndrome
Akute und chronische Verdauungsstörungen sind häufig mit einer funktionellen Störung assoziiert, die sie nachahmt und verlängert(1). Diese bei Erwachsenen häufige und bestens dokumentierte Beobachtung findet sich auch bei Kindern und Jugendlichen(2). Das gleiche Phänomen ist auch aus anderen Bereichen bekannt: So beobachtet man beispielsweise bei Patient:innen mit entzündlichen Gelenkerkrankungen häufig fibromyalgieähnliche funktionelle Schmerzen(3,4), bei Asthmapatient:innen wiederum Stimmbanddysfunktionen(5).
In Anbetracht des Fachgebiets, in dem ich praktiziere, konzentriere ich mich im Folgenden auf Störungen mit gastrointestinalen Symptomen. Im Grundsatz gelten die beschriebenen Beobachtungen jedoch für die meisten klinischen Fachgebiete.
Um welche Syndrome geht es? Begrifflichkeiten
Als «funktionelles» Syndrom respektive Symptom bezeichne ich Störungen ohne feststellbaren zugrunde liegenden Organschaden: z. B. das Reizdarmsyndrom, Schmerzen ohne Befund im organischen Substrat, eine Stimmbanddysfunktion.
Solche funktionellen Störungen können mit aktiven oder nicht aktiven organischen Störungen koexistieren: Dies ist beispielsweise der Fall bei Patient:innen, die sowohl an Symptomen einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (CED) als auch an einer funktionellen gastrointestinalen Störung (functional gastrointestinal disorder, FGID) leiden.
Auf welche Beschwerden können funktionelle Störungen folgen? Oft handelt es sich um akute infektiöse (z. B. Gastroenteritis) oder traumatische (Unfall oder Operation) Erkrankungen. Funktionellen Störungen begegnet man ausserdem bei Patient:innen mit chronischen Erkrankungen wie Asthma oder CED.
In welchem klinischen Kontext treten funktionelle Störungen auf? Es soll hier auf drei Szenarien eingegangen werden: die in der Hausarztmedizin häufig anzutreffenden postinfektiösen funktionellen Störungen, die Langzeitbetreuung von Patient:innen mit chronischen Erkrankungen sowie einige komplexe Situationen, die einen multidisziplinären Ansatz erfordern.
«Doppeltes Leiden»
Das Auftreten einer funktionellen Störung nach einem entzündlichen oder traumatischen Phänomen vermittelt den Eindruck, als würden die Symptome trotz einer «Heilung» der Läsionen fortbestehen. Die Patient:innen verstehen das nicht und erleben es als belastend. Zwar haben die Betroffenen zu Recht das Gefühl, an andauernden Symptomen zu leiden, doch liegen bei ihnen eigentlich zwei verschiedene Probleme vor – nämlich ein «doppeltes Leiden».
Als Ärzt:innen müssen wir zwischen den beiden beteiligten Komponenten unterscheiden: der organischen Erkrankung und der funktionellen Störung. Paradoxerweise kann es sich als schwieriger erweisen, die funktionellen Symptome zu behandeln als die entzündliche Läsion; auch für die Behandelnden handelt es sich daher um ein «doppeltes Problem».
Prognose
In den allermeisten Fällen ist der Spontanverlauf günstig, insbesondere wenn die Patient:innen angemessen behandelt und aufgeklärt werden. Nur in selteneren Fällen können FGID zu dauerhaften komplexen Syndromen führen wie den nachfolgend angeführten Beispielen.
Pathogenese
Wie lassen sich funktionelle Störungen nach akuten und chronischen somatischen Erkrankungen verstehen? Klinisch sieht es so aus, als würde eine Art «Organgedächtnis» das Trauma der akuten Infektion nachzeichnen und ähnliche, länger anhaltende Symptome hervorrufen. Definitionsgemäss liegt bei dieser Art von funktionellen Störungen wie auch bei den anderen kein nachweisbares organisches Korrelat vor. Es handelt sich also um «Symptome, die gesunden Organen entspringen».
Zwar wurden in einigen Fällen kaum merkliche entzündliche Läsionen sowie eine mukosale Immunaktivierung bei postinfektiöser FGID nachgewiesen(6), jedoch bestehen Zweifel an der Kausalität dieser mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden nicht nachweisbaren Läsionen. Vielmehr könnte es sich um Folgen der ursprünglichen Entzündung handeln. Man muss einräumen, dass ungeachtet dieser Beobachtungen die Pathophysiologie postinfektiöser funktioneller Störungen weitgehend unbekannt ist und insbesondere die Rolle biologischer und psychischer Faktoren unklar ist.
Biologische oder psychologische Faktoren?
Unabhängig davon, ob eine residuale Mikroentzündung, ein echtes «posttraumatisches Organgedächtnis» im Zusammenhang mit Gliazell-Läsionen(7,8), oder aber andere noch zu erforschende Mechanismen verantwortlich sind, geht man davon aus, dass postinfektiöse funktionelle Störungen ohne zusätzliche psychologische Faktoren auftreten können.
Psychische Elemente (namentlich Missbrauch, Stress) sind jedoch generell Risikofaktoren für funktionelle gastrointestinale und insbesondere postinfektiöse Störungen bei Erwachsenen und Kindern(9).
Tatsächlich reagiert der Verdauungstrakt sehr empfindlich auf Einflüsse emotionaler Faktoren. Bei einem klassischen «psychophysiopathologischen» Szenario bestehen körperliche und psychische Faktoren nebeneinander(10). Beispielsweise kann eine akute Gastroenteritis bei einer Person, die seit langem an moderaten funktionellen gastrointestinalen Störungen leidet, sowohl körperlich als auch psychisch zu einer Art Trauma führen. Treten moderate postinfektiöse funktionelle Störungen auf, können diese bei der betroffenen Person oder ihrem Umfeld Angstzustände hervorrufen, die eventuell in einen Teufelskreis münden und wiederum die gastrointestinalen Beschwerden verstärken.
Generell sind ohne ursächliche Läsion auftretende somatische Störungen, die bereits bestehende organisch bedingte Symptome nachahmen, in klinischen Fachkreisen gut bekannt. Es handelt sich um das Phänomen, das Freud als «Bahnung»(11) und «somatisches Entgegenkommen»(12) bezeichnete. Diese Metaphern beschreiben die Beobachtung, dass ein einmal «gebahnter Schmerzweg» in einem Organ auch bei späteren Schmerzsymptomen vorzugsweise aktiviert wird (das Organ «wird anfällig» für derartige Manifestationen).
Gemäss einer modernen Lesart des Phänomens fällt die Heilung von Läsionen nach einer akuten Erkrankung nicht immer mit der vollständigen Genesung des Individuums zusammen. Oftmals beinhaltet die akute oder chronische Erkrankung eine traumatische Komponente, die vor allem dann zum Fortbestehen der Symptome beiträgt, wenn angstbehaftete Repräsentationen das «psychische Vakuum» ausfüllen, die eine somatische Erkrankung hinterlässt.
Klinische Kontexte
Postinfektiöse und postoperative funktionelle Störungen in der Hausarztmedizin
De novo auftretende funktionelle gastrointestinale Störungen nach einer Gastroenteritis sind ein in der Praxis bekanntes und wissenschaftlich belegtes Phänomen mit einer Inzidenz von 10–25 %. In diesem Fall spricht man von einer postinfektiösen FGID (PI-FGID)(1). Die obige Vignette zeigt das klassische Krankheitsbild: Eine Patientin bzw. ein Patient erscheint in den Wochen nach einer akuten infektiösen Episode (Gastroenteritis, mesenteriale Lymphadenitis, Covid(13)), die scheinbar günstig verlaufen ist. Bisweilen treten die Symptome nach einem beschwerdefreien Intervall auf und ähneln denen der akuten Episode, allerdings ohne Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes. Die Laborwerte haben sich normalisiert. Häufig besteht Besorgnis aufseiten der betroffenen Person oder ihres Umfelds. Eine weitere klassische Form ist die Verschlimmerung einer vorbestehenden funktionellen Störung nach einer akuten infektiösen Episode.
Ein anderes Beispiel ist das «Postcholezystektomiesyndrom». Diese Diagnose liegt vor, wenn die operierte Person über anhaltende Blähungen und Stuhlunregelmässigkeiten klagt.
Häufige postinfektiöse funktionelle Störungen sollten dem Arzt oder der Ärztin geläufig sein. Für die entsprechende Diagnosestellung genügt in der Regel bereits die Normalisierung der wichtigsten Entzündungsparameter. Umfangreiche weitere Abklärungen sind trotz persistierender Symptome nicht erforderlich.
Begleitende funktionelle Störungen bei chronischen Krankheiten
Etwa ein Drittel der Patient:innen mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (CED) weisen eine FGID auf(14,15). Daran sollte bei der Betreuung solcher Fälle stets gedacht werden. Tatsächlich ähneln sich die ursprünglichen organisch bedingten und die funktionellen Symptome stark. Stets besteht dabei die Gefahr, dass organisch bedingte Symptome von ärztlicher Seite fälschlicherweise einer funktionellen Störung zugeschrieben werden (mit der möglichen Folge, dass dringend behandlungsbedürftige Komplikationen verkannt werden), oder umgekehrt (in diesem Fall werden die Patient:innen unter Umständen einer unwirksamen therapeutischen Eskalation ausgesetzt).
Nach meiner Erfahrung entfallen bis zu 25 % der Zeit in der ambulanten Konsultation von CED-Patient:innen auf die immer wieder neu aufgerollte detaillierte Analyse der Symptome, um zu bestimmen, ob diese eher funktionellen Ursprungs oder organisch bedingt sind.
Komplexe Situationen
In manchen Fällen verschärfen sich postinflammatorische oder posttraumatische funktionelle Störungen und werden refraktär, was das Leben der Patient:innen stark beeinträchtigen kann. Diese Fälle ähneln der Situation bei chronischen Schmerzen und werden oft von psychiatrischen Symptomen begleitet, insbesondere Angst, Depression, übermässige Sorge um die Gesundheit. Bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Symptome spielt stets eine psychische Komponente hinein, auch wenn dies von den Patient:innen zunächst oft abgestritten wird. Unter diesen Umständen ist eine Zusammenarbeit mit Spezialist:innen für Psychiatrie, Psychotherapie oder Psychosomatik empfehlenswert. Mit einschlägiger Erfahrung lassen sich bestimmte typische Situationen erkennen.
Phänomene der ängstlichen Antizipation
Diese Phänomene sind insbesondere bei Patient:innen mit CED häufig und setzen eine Art «Rückkopplungsschleife» in Gang: Postinflammatorische funktionelle Symptome werden als angstauslösend erlebt und die Angst verschlimmert wiederum die gastrointestinalen Symptome.
Einer der häufigsten Fälle ist die «panische Angst, unterwegs kein WC zu finden», deren klinisches Szenario sich folgendermassen darstellt: Eine Person ohne oder mit zunächst nur leichter funktioneller gastrointestinaler Störung entwickelt eine Colitis ulcerossa, die eine Diarrhoe verursacht. Nachdem die CED in Remission ist, persistiert die Diarrhoe, jedoch in einer überspitzten, veränderten Form. Tatsächlich leidet die Patientin bzw. der Patient an einer «Stuhlinkontinenzangst» und verspürt immer gerade dann imperativen Stuhldrang, wenn kein WC in der Nähe ist.
Traumata, Symbole und Prophezeiungen
Manche Patient:innen mit CED entwickeln paradoxerweise persistierende funktionelle Symptome nach einer gastrointestinalen Operation, die diese lindern sollte. In einigen Fällen deutet das lokale klinische Schmerzbild auf eine Art «gastrointestinale Algodystrophie» hin. Es kommt auch vor, dass Patient:innen beispielsweise nach chirurgischer Resektion eines stenosierten, schmerzhaften Darmsegments das Äquivalent eines «Phantomschmerzes» im operierten Bereich spüren. Erfahrungsgemäss tritt eine derartige Komplikation häufiger auf, wenn der chirurgische Eingriff als Trauma erlebt wird, beispielsweise im Rahmen eines Notfalls oder wenn der oder die Patient:in von der Indikation zum chirurgischen Eingriff nicht überzeugt war.
In anderen Fällen scheinen die Symptome eine Art symbolische Bedeutung zu haben. Dies war zum Beispiel der Fall bei einer Patientin mit Morbus Crohn, die nach der vollständigen Ausheilung ihrer Ileitis eine Art «Verschluss» direkt unter dem Magen spürte, als ob «etwas nicht mehr zirkuliert». Was ihr eigentlich zu schaffen machte, war eine scheiternde Liebesbeziehung, und in ihrem Symptom drückte sich körperlich ihre Angst aus, dass ihr Begehren und ihre Liebe nicht mehr wie früher «zirkulierten».
Schliesslich gibt es auch Patient:innen, die an anhaltenden invalidisierenden Symptomen leiden, lange nachdem sie aufgeschnappte Äusserungen von Ärzt:innen als negative Prophezeiungen verinnerlicht hatten. Dieses Phänomen lag beispielsweise bei einem Patienten vor, der dreissig Jahre lang ununterbrochen Prednison eingenommen hatte, weil er sich nach seinem ersten (und einzigen) Colitis ulcerosa-Schub nie mit dem Gedanken abfinden konnte, es abzusetzen. Der Grund: Sein Arzt hatte ihm vorausgesagt, «dass er sein Leben lang krank sein und immer auf Prednison angewiesen sein werde». Er litt also nicht mehr an seiner CU, sondern an der ärztlichen Prophezeiung. Somit sollten wir uns stets vergegenwärtigen, dass wir mit unbedachten Äusserungen unbewusst negative Botschaften vermitteln können – mit weitreichenden Konsequenzen.
Eine verborgene innerliche Leidenskomponente einer somatischen Erkrankung
Jede akute oder chronische Erkrankung, jede Operation wird zu einem gewissen Grad «rational» erlebt. Jedoch verbinden sich damit auch irrationalere und bisweilen unbewusste Vorstellungen, welche die betroffene Person möglicherweise aus Scham lieber für sich behält. Dies war beispielsweise der Fall bei einer Frau, die nach ihrer Hysterektomie stark litt, weil sie überzeugt war, die Operation hätte in ihrem Bauch ein «Loch» hinterlassen, in das ihr Darm irgendwann «hineinzufallen» drohte.
Was Krankheit oder Unfall tatsächlich für die Patient:innen bedeuten, erfahren wir oft erst, wenn wir sie danach fragen. Sich Zeit zu nehmen, um herauszufinden, wie ein akutes oder chronisches Gesundheitsproblem erlebt wird, kann meiner Ansicht nach ein grosser Beitrag zur Prophylaxe postläsionaler Störungen sein(16,17).
Die psychische Dimension funktioneller «Post-Erkrankungs»-Störungen lässt sich auch anders betrachten: Unsere – vor allem medikamentösen und chirurgischen – Behandlungen sind ausserordentlich wirksam, decken aber nur einen Teil des Leidens ab. Ein anderer Teil liegt eher im Verborgenen und hängt mit bewussten und unbewussten Vorstellungen der Patient:innen – ihren unausgesprochenen Ängsten – zusammen.
Wie sollte man sich von ärztlicher Seite verhalten?
Ärzt:innen sollten bei ihrem Vorgehen stets folgende Punkte im Hinterkopf behalten:
- Postinflammatorische und posttraumatische FGID sind ein häufiges Problem, auch wenn ihre Ursache noch nicht hinreichend bekannt ist.
- In ihrer Pathogenese können «optionale» psychische Faktoren eine Rolle spielen, allerdings auf unterschiedliche Art und Weise.
- Wenn keine persistierenden Entzündungsbiomarker vorliegen, kann die Diagnose in der Regel ohne umfangreiche ergänzende invasive Untersuchungen gestellt werden.
- Der klinische Verlauf ist im Allgemeinen günstig, insbesondere, wenn die Patient:innen und ihr Umfeld angemessen aufgeklärt wurden.
- In einigen komplexen Fällen wirken sich die funktionellen Symptome invalidisierend aus und erfordern einen multidisziplinären Ansatz.
Erfahrungsgemäss ist die Einstellung der ärztlichen Fachperson von zentraler Bedeutung. Meistens lässt sich mit einer Aufklärung über die Art der postinfektiösen FGID und einer wenn auch nur knappen Erörterung der emotionalen Faktoren, die sich rund um die akute Episode und die Folgestörungen entwickeln konnten, der psychophysische anxiogene Teufelskreis durchbrechen und der Verlauf zum Positiven wenden.
Nur in relativ seltenen Fällen braucht es einen gezielteren Ansatz, der psychophysische Methoden (Hypnose, Achtsamkeitsmeditation) mit oder ohne eine – eventuell nur kurzzeitige – Psychotherapie umfassen kann.
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