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Schlüsselmechanismen zum Verständnis funktioneller Körpersymptome

Körpersymptome ohne Organkorrelat werden als funktionell bezeichnet. Das physiologische Verständnis körperlicher Symptome funktioneller Genese erschliesst sich erst, wenn man die höher geordneten Bereiche der Organsteuerung, der Organperzeption und der Symptomverarbeitung mitberücksichtigt. Die kontextuellen Umstände, in denen ein Kind lebt, sind hinsichtlich der Stärke und Art der Symptommanifestation mitentscheidend.

Organsteuerung

Funktionelle Symptome sind Ursache von ca. 20-40% der Konsultationen in der Grundversorgung(1). Das klinische Spektrum reicht von der stressassoziierten Diarrhoe bis zur dissoziativen Lähmung (Abb.1). Äussere und innere Einflüsse auf die Erlebenswelt eines Subjekts führen über neuropsychische, neuroendokrine, neuroimmunologische, neuroviszerale und neurometabolische Top-down-Mechanismen zu einer veränderten Funktionalität der Organe. Am häufigsten sind transiente vegetativ-induzierte Symptome im Rahmen der sympathikogenen Stressreaktion, welche zu körperlichen Symptomen wie Tachykardie, Palpitationen, Mundtrockenheit, roten Hautflecken, muskulären Verspannungen, Inappetenz, Verdauungsstörungen, Konzentrations- und Schlafproblemen etc., führt. Hinweisend für eine stressinduzierte Ursache ist die Tatsache, dass die Symptome stets als organübergreifende Phänomenologie, d.h. in Kombination auftreten, sowie deren situative Kontextualisierung, respektive Auslösung.

Abbildung 1. Diese Abbildung zeigt eine Auswahl von körperlichen Symptomen funktioneller Genese, wie sie in der Erwachsenenmedizin typisch sind. Beim Kind sind stressassoziierte Kopf- und Bauchschmerzen häufig. Man beachte, dass sich funktionell bedingte Körperbeschwerden oftmals phänomenologisch nur wenig von organisch bedingten Körperbeschwerden unterscheiden und daher die somatische Differenzialdiagnose essenziell bleibt. Komplizierend kommt hinzu, dass sich funktionelle Körpersymptome auch gleichzeitig oder im Nachzug zu einer primär organisch bedingten Symptomatik entwickeln können: So können beispielsweise Reizdarmbeschwerden additiv zu einer entzündlichen Darmerkrankung bestehen oder Kopfschmerzen sowohl visusbedingt als auch stressassoziiert sein.

Organperzeption

Häufig aufgepfropft auf vegetativ-induzierte Organdysfunktionen kommt eine somatosensorisch- hyperperzeptive Komponente hinzu. Diese Hypersensibilität ist die Erklärung der Symptomstärke z.B. bei Reizmagen, Reizdarm, Reizblase, Spannungskopfschmerzen etc. Sie ist Ursache der Allodynie beim Komplexen Regionalen Schmerzsyndrom oder auch häufig die Ursache der Schmerzpersistenz nach (wiederholten) operativen Eingriffen(2). Neben genetischer Disposition sind für diese Hypersensitivität reaktive neuroinflammatorische Vorgänge mitverantwortlich. Diese neurogene Reizverstärkung ist u.a. stressphysiologisch begründet («stressinduzierte Hyperalgesie»)(3,4). In der Erwachsenenmedizin wird das Vorhandensein von Hypersensitivität anamnestisch systematisch exploriert und mit standardisierten Schmerzempfindlichkeitstesten klinisch untersucht(5).

Symptomverarbeitung und Symptomumgang

Ein Symptom wird registriert, im Bewusstsein bearbeitet und meist auch mitgeteilt. Je nach Alter und kulturell-familiärer Prägung ist der Umgang mit Symptomen unterschiedlich: Von einem Kleinkind erfährt somatogenes Unwohlsein (z.B. bei Zahnschmerzen) sowie psychosozial bedingtes Unwohlsein (z.B. bei Trennungsschmerzen) einen noch sehr ähnlichen nonverbalen Ausdruck. Auch bei Schulkindern mit stressbedingten Kopf- und Bauchschmerzen liegt noch oft eine prä-duale Symptomverarbeitung vor. Das kulturell geprägte Symptom-Splitting (psychogen versus somatogen) erfolgt erst später. Funktionelle Körpersymptome sind indessen ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer Revision des dualistischen Selbstbildes hin zu einem nuancierten Selbstverständnis, das psychische und somatische und funktionelle Symptome stets als neuroperzeptive und subjektive Phänomene versteht(6).

Losgelöst von der Ursache der Beschwerden (funktionell oder organisch bedingt) sind beim Jugendlichen und beim Erwachsenen Symptom-Erwartung, Symptom-Fokussierung, Symptom-Deutung, emotionale Symptom-Konnotation (z.B. Angst) wie auch die Identifikation mit dem Symptom (z.B. bei Anorexia nervosa) Modulationsgrössen, welche die Symptomstärke, Symptomqualität und das Krankheitsverhalten mitbestimmen. Das Krankheitsverhalten widerspiegelt auch familiär-systemische Besonderheiten (z.B. Überbesorgnis, Überbehütung, Sekundärgewinn, Kompensationsverhalten etc.). Bei der differentialdiagnostischen Einordnung komplexer Symptome lohnt es sich, den individuellen Symptomumgang mit zu berücksichtigen und die Betroffenen bei ihren eigenen Vorstellungen (Krankheits-Modell) abzuholen.

Psychiatrische Symptome

Psychiatrische Symptome sind vorab Störungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Diese Symptome sind nicht mit funktionellen Körpersymptomen gleichzusetzen oder zu verwechseln. Funktionelle körperliche Symptome kommen auch ohne jede Psychopathologie vor, Schulstress genügt. Akuter oder chronischer Stress verändern sowohl Organsteuerung als auch Organperzeption und begünstigen damit unmittelbar die Entstehung funktioneller Körpersymptome (Abb. 2). Da Stressbelastung aber auch zu psychischen Beschwerden führt, kommen psychische Symptome oft in Kombination mit funktionellen körperlichen Symptomen vor.

Abbildung 2. Stress führt über vegetative und endokrine Mechanismen zu veränderten Tonus-, Sekretions-, Motilitäts- und Permeabilitätseigenschaften innerer Organstrukturen. Neurogen gesteigerte Somatosensorik, Viszerozeption und Nozizeption verstärken die Symptomwahrnehmung und führen zu Hypersensitivität. Stressreaktion und Hypersensitivität sind Schlüsselmechanismen der Physiologie funktioneller Körpersymptome.
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Umfeld

Die kontextuellen Umstände, in denen ein Kind lebt, sind hinsichtlich der Stärke und Art der Symptommanifestation entscheidend. Die enorme Neuroplastizität sowie die bedingungslose Abhängigkeit im Kindesalter erklären diesen starken Umfeldeinfluss. Eine kürzliche Sondernummer der «Therapeutischen Umschau» gibt eine Literaturübersicht, inwiefern sich kumulative aversive Kindheitserfahrungen hinsichtlich Schmerzperzeption, Hirnentwicklung, stressendokriner Veränderungen und psychischer Folgen tiefgreifend auswirken können(7). Zuverlässige, empathische und kontinuierliche Bezugspersonen sind der grösste Schutzfaktor. Stressreduktion und resilienzfördernde Massnahmen sind die wichtigsten kausal-therapeutischen Ansätze gegen funktionelle Körpersymptome. Der Beizug von pädiatrischen Fachärzt:innen mit Zweittitel in psychosomatischer und psychosozialer Medizin, Kinderpsychiater:innen sowie Kinderpsycholog:innen ist bei schweren Fällen essentiell.

Referenzen

  1. S3 Leitlinie «Funktionelle Körperbeschwerden» AWMF, 2018, Reg. Nr. 051-001 https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-001
  2. Yunus MB. Editorial review: an update on central sensitivity syndromes and the issues of nosology and psychobiology. Curr Rheumatol Rev. 2015;11(2):70-85.
  3. Littlejohn G, Guymer E. Neurogenic inflammation in fibromyalgia. Semin Immunopathol. 2018;40(3):291-300.
  4. Chrousos GP. Stress and disorders of the stress system. Nat Rev Endocrinol 2009;5(7):374–81.
  5. Cámara R JA, Gharbo RK, Egloff N. Age and Gender as Factors of Pressure Sensitivity of Pain-Free Persons: Are They Meaningful? J Pain Res 2020. www.algopeg.ch
  6. Merki V, Hurni B, Egloff N. Funktionelle Körperbeschwerden in Praxis und Spital. SWISS MEDICAL FORUM 2022;22(3–4):46–48.
  7. Egloff N et al. Themenheft «Langzeitfolgen aversiver Kindheitserfahrungen». Therapeutische Umschau 2020;77(3):85-117.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
PD Dr. med. Niklaus Egloff, Department of Health Sciences and Technology ETH Zürich und Medizinische Fakultät Universität Bern, Schweiz