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Psyche und Soma – es geht nur gemeinsam

Paralleldiagnostik bei Verdacht auf funktionelle Körperbeschwerden.

Ein normaler Freitagabend auf dem Notfall

Auf der überfüllten Notfallstation am Freitagabend wartet eine Jugendliche mit seit Monaten bestehenden Bauchschmerzen, Schwindel und Unwohlsein. Seit Wochen besucht sie die Schule nicht mehr und verbringt die Tage zuhause. Die Eltern berichten von diversen Arztbesuchen und Abklärungen ohne richtungsweisenden Befund. Sie beklagen, dass trotz dem Leiden der Tochter niemand die Beschwerden ernst nehme und nichts unternommen wird. Andere Patient:innen warten zeitgleich auf eine dringende Beurteilung, ein Kind mit Verdacht auf eine Meningitis benötigt eine Lumbalpunktion und es wird ein instabiles Kind nach Polytrauma angemeldet. Welches Vorgehen eignet sich nun für die Jugendliche? Im Folgenden wird ein strukturiertes und interprofessionelles Vorgehen für die Beurteilung und Behandlungseinleitung bei Verdacht auf funktionelle Beschwerden beschrieben, welches sich in der Praxis bewährt hat und den aktuellen Leitlinien entspricht(1).

Hintergrund

Körperbeschwerden ohne erklärungskräftigen somatischen Befund sind ein häufiges Phänomen. Sie führen zu einer erheblichen Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung, sind mit hohen Kosten und einem Risiko für unnötige Eingriffe und Fehldiagnosen verbunden(2). Zahlen aus dem Erwachsenenbereich weisen darauf hin, dass 20-50% der körperlichen Beschwerden in der Grundversorgung in diese Gruppe gehören(3). Abdominelle Schmerzen stehen an vorderster Stelle für wiederholte kinderärztliche Vorstellungen, gefolgt von Kopf- und Rückenschmerzen(4). Funktionelle neurologische Symptome, wie nicht-epileptische Anfälle oder Sensibilitätsstörungen, treten vor allem bei Jugendlichen auf(5). Viele Patient:innen mit funktionellen Beschwerden weisen nicht ein einziges anhaltendes Symptom auf, sondern leiden unter multiplen und sich teilweise abwechselnden Beschwerden(6). Diese sind oft mit grosser Angst und Sorge um die Gesundheit verbunden(3) und führen zu einer deutlichen Einschränkung im Alltag. Nicht nur die emotionale und soziale, sondern auch die schulische Entwicklung ist aufgrund von häufigen Schulfehltagen gefährdet(6).

Die Betroffenen und ihre Familie, aber auch die abklärenden Ärzt:innen und das Behandlungsteam sind aufgrund der Diskrepanz zwischen unauffälligem organmedizinischem Befund und den intensiv erlebten körperlichen Beschwerden gefordert. Obwohl dem Beschwerdebild eine biopsychosoziale Genese zu Grunde liegt, werden viele dieser Patient:innen zunächst von den niedergelassenen Kinderärzt:innen gesehen und dann je nach Lokalisation der Beschwerden den entsprechenden somatischen Spezialist:innen zugewiesen(5). Das führt dazu, dass schnell mehrere spezialisierte Fachpersonen involviert sind, einzelne Organsysteme untersucht und isolierte Beurteilungen und Rückmeldungen gegeben werden. Dies erschwert die Kommunikation und die Etablierung eines umfassenden Krankheitsverständnisses sowie die Einleitung erfolgversprechender therapeutischer Massnahmen(7). Funktionelle Beschwerdebilder korrekt zu diagnostizieren, ist ein komplexer Prozess und erfordert ein interprofessionelles Vorgehen(8). Dabei ist es wichtig, dass die somatischen und psychodiagnostischen Abklärungen parallel durchgeführt und somatische, psychische und soziale Faktoren von Beginn weg gleichermassen berücksichtig werden(9). Der frühzeitige Einbezug der psychologisch/psychiatrischen Expertise in die Abklärung verkürzt die Hospitalisationszeit von Patient:innen mit funktionellen Beschwerden nachweislich(10). Zudem soll mit dem von Beginn weg interprofessionellen Vorgehen verhindert werden, dass die Betroffenen und ihre Familie sich in Richtung Psychologie/Psychiatrie «abgeschoben» fühlen, wenn die somatische Medizin keine Erklärung für die Beschwerden gefunden hat.

Während bei einem Meningitisverdacht oder einem Polytrauma die Pfade für Diagnostik und Behandlung klar sind, fühlen sich viele Fachpersonen bei Beschwerden, die somatisch nicht ausreichend erklärt werden können, unsicher. Sie haben keine einheitliche Terminologie für das Krankheitsphänomen und keine klaren Behandlungsrichtlinien, nach welchen sie sich bei dieser oft zeitaufwändigen Patientengruppe richten könnten(11). Doch gerade diese Patient:innen benötigen ein Team mit grosser medizinischer Expertise und guten kommunikativen Fertigkeiten. Die Betroffenen und ihre Familien fühlen sich nach einer rein organischen Ausschlussdiagnostik oft nicht ernst genommen. Für den Behandlungserfolg sind die Validierung der Symptome, Akzeptanz der Diagnose und enge Begleitung durch das Behandlungsteam zentrale Elemente(7). Es ist notwendig, dass alle involvierten Fachpersonen das entsprechende Fachwissen haben und ein gemeinsames Wording entwickeln, um zu erklären, von welcher Diagnose das Team ausgeht und welche Behandlungen indiziert sind. Viele Betroffenen und deren Eltern haben zunächst Mühe, biopsychosoziale Erklärungsmodelle anzunehmen und befürchten, dass eine rein somatische Ursache für die Beschwerden übersehen wurde. Daher können schon kleine Unsicherheiten oder Abweichungen in der Wortwahl der Fachpersonen Verunsicherung auslösen und das Vertrauen in ein biopsychosoziales Behandlungskonzept schwächen(12). Einige Formulierungshilfen, die sich im klinischen Alltag und insbesondere beim stationären Assessment bewährt haben, sind in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1. Mögliche Formulierungen für den Austausch mit den Betroffenen/Familien (In Anlehnung an Ibeziako et al. 2019(2) und Egloff et al. 2019(15))

Assessment und Diagnosestellung

Anstelle einer reinen Ausschlussdiagnostik wird ein umfassendes biopsychosoziales Assessment empfohlen(1,2). Doch was wird nun vom Team auf dem Notfall am Freitagabend erwartet? Eine notfallmässige stationäre Aufnahme scheint nicht zielführend, da auf den Bettenstationen der Fokus auf den akut erkrankten Fällen liegt und die personellen Ressourcen für eine sinnvolle Abklärung fehlen. Je nach Belastungsgrad der Familie und Gefährdung der schulischen und sozialen Entwicklung, hat sich ein elektives stationäres Assessment mit integriertem Schulbesuch bewährt. Dieses soll noch auf dem Notfall zeitnah in Aussicht gestellt und geplant werden. Bei insgesamt kompensierter Situation und trotz der Beschwerden guter Funktionsfähigkeit im Alltag, soll ein ambulantes interprofessionelles Assessment in Betracht gezogen werden.

Elektives stationäres Assessment inklusive Schulbesuch

Werden Kinder und Jugendliche mit Verdacht auf funktionelle Beschwerden für ein stationäres Assessment aufgenommen, so soll der Eintritt idealerweise auf Anfang einer Woche gelegt und für 3-5 Tage geplant werden. Nur so sind wichtige Elemente wie interprofessionelle Gespräche, Abklärungen und Edukation der Familie gut planbar und die verschiedenen Professionen vor Ort (zum Ablauf siehe Flowchart Abb.1 ). Die Betroffenen können so auch von stationären Therapien (u.a. Physiotherapie) und vom Besuch der internen Klinikschule profitieren. Liegt längerer Schulabsentismus vor, so kann die Hospitalisation zur Schulexposition genutzt werden. Während des stationären Aufenthalts können Beobachtungen von sämtlichen Fachpersonen inklusive Pflege und Lehrpersonen zusammengetragen und noch ausstehende somatische Abklärungen sowie ein umfassendes psychologisch/psychiatrisches Konsil durchgeführt werden. Bereits extern durchgeführte somatische Abklärungen werden gesichtet und validiert, jedoch nicht zwingend wiederholt.

Ziel der Hospitalisation ist eine diagnostische Einordnung, die Aufklärung der Familie über das vermutete Störungsbild und die Planung der weiterführenden Therapie. In den wenigsten Fällen wird tatsächlich noch eine somatische Ursache für die Beschwerden gefunden, deren Behandlung nach Guidelines erfolgen kann. In den meisten Fällen wird eine multimodale Therapie mit psychotherapeutischen, sozialen und körpertherapeutischen Interventionen sowie eine Rückführung in den Alltag empfohlen. Dafür stellt auch der Schulbesuch während der Hospitalisation ein wichtiger Bestandteil dar.

Schulabsentismus ist ein komplexes Phänomen und die Gründe für Fehltage in der Schule sind vielfältig. Die Folgeprobleme werde jedoch grösser, je länger die Schule nicht mehr besucht wird. Eine zeitnahe Rückkehr in die Schule ist essentiell, um eine Chronifizierung und Entwicklungsgefährdung zu verhindern(13,14). Wenn während der Hospitalisation in geschütztem Rahmen und mit kleinem Pensum die Spitalschule besucht werden kann, ist häufig eine erste Hürde überwunden. Zudem kann Unterstützung im Symptommanagement während des Unterrichts gegeben werden (im Sinne von «trotz Beschwerden zur Schule»). Dieser Ansatz erscheint in der Praxis vielversprechend und ist ein wichtiger erster Schritt für die Reintegration in den schulischen und sozialen Alltag.

Sind die somatischen und die psychologisch/psychiatrischen Abklärungen abgeschlossen, erfolgt das interprofessionelle Auswertungsgespräch. In einem Vorgespräch unter den involvierten Fachpersonen werden zunächst die Befunde aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragen, mögliche Diagnosen und Störungsmodelle diskutiert und ein Therapieplan skizziert. Die Therapie erfolgt in der Regel ambulant, bestehen die Symptome aber schon lange und führen zu einer hohen Beeinträchtigung, muss eine stationäre Therapie diskutiert werden. Nach dem Fachaustausch findet das Auswertungsgespräch mit den Betroffenen und den Eltern statt. Es gilt, die Ergebnisse sorgfältig zu präsentieren, offene Fragen zu klären, mit der Familie ein gemeinsames biopsychosoziales Verständnis der Symptomatik zu erarbeiten und sie für einen umfassenden Behandlungsplan zu motivieren. Dabei ist es wichtig, eine positive Diagnose zu stellen (z.B. «Dissoziative Störung») und die ganzen Nachweise aus dem biopsychosozialen Assessment aufzuzeigen, welche zur Diagnose führen anstatt nur Aussagen darüber zu machen, welche Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten(7). Vor der diagnostischen Einordnung sprechen wir in im Allgemeinen von «Patient:innen mit Verdacht auf funktionelle Beschwerden», nach abgeschlossener Diagnostik können die Symptome häufig unter folgende klinische Störungsbilder nach ICD-11 subsumiert werden: Chronische primäre Schmerzen, Somatische Belastungsstörung, Dissoziative Störung oder Angststörung.

Abbildung 1. Flowchart Interprofessionelles stationäres Assessment bei Verdacht auf funktionelle Beschwerden.

Ambulante Abklärung

Nicht bei allen Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf funktionelle Beschwerden ist ein stationäres Assessment notwendig. Viele sind trotz der Beschwerden im Alltag noch gut funktionsfähig und kompensiert. Es besteht aber auch bei dieser Gruppe in der Regel eine grosse Unsicherheit, wie die Symptome einzuordnen sind und wie man therapeutisch vorgehen soll. Auch im ambulanten Bereich ist ein interprofessioneller Ansatz und die parallele Abklärung von Psyche und Soma das ideale Vorgehen. Gelebt wird diese Abklärungsweise im Kinderspital Zürich in der interprofessionellen Schmerzsprechstunde und in der Post-Covid-Sprechstunde mit gutem Erfolg, jedoch mit knappen Ressourcen. Auch wenn der zeitliche und personelle Aufwand von interprofessionellen Angeboten zunächst gross erscheint, so ist dieser Ansatz für die Diagnosestellung im Bereich der funktionellen Beschwerden ein grosser Vorteil und führt zu zielführenden Therapien, weniger invasiver Diagnostik und einem besseren Krankheitsverständnis bei den Betroffenen.

Fazit

Bei Verdacht auf funktionelle Beschwerden lohnt sich ein interprofessionelles, paralleles Assessment ambulant oder stationär. Notfallmässige Hospitalisationen sind zu vermeiden. Spezialist:innen für Psyche und Soma sollen gemeinsam Befunde erheben, die Diagnosegespräche führen und ein multimodales Therapiesetting aufgleisen. Schulexposition im stationären Setting ist hilfreich für die Reintegration in den Alltag.

Referenzen

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  2. Ibeziako P, Brahmbhatt K, Chapman A, et al. Developing a Clinical Pathway for Somatic Symptom and Related Disorders in Pediatric Hospital Settings. Hospital Pediatrics. 2019;9(3):147-155. doi:10.1542/hpeds.2018-0205
  3. Haller H, Cramer H, Lauche R, Dobos G. Somatoform Disorders and Medically Unexplained Symptoms in Primary Care. Deutsches Ärzteblatt international. Published online April 17, 2015. doi:10.3238/arztebl.2015.0279
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Weitere Informationen

Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr. phil. Alice Prchal, Abteilung für Psychosomatik und Psychiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich
Dr. med. Lara Gamper, Abteilung für Allgemeine Pädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich