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Editorial

Die funktionelle Störung: ein Anstoss, Medizin neu zu denken

Funktionelle Störungen konfrontieren die Behandler:innen mit einem pathologischen Universum, zu dem ihnen oftmals der Schlüssel fehlt und an dem sie mit einem Gefühl absoluter Hilflosigkeit zu scheitern drohen. Hinter dem Bild eines augenscheinlich gesunden Organs, das dennoch seine Funktion nicht erfüllt, bei unklaren Schmerzen und Störungen, deren Ursache sich dem ärztlichen Urteilsvermögen entzieht, tritt eine andere Seite der Krankheit hervor, in der sich die komplexen Zusammenhänge zwischen Umfeld, Psyche und Körper offenbaren.

Die Adoleszenz, eine entscheidende Phase der menschlichen Entwicklung, in der es um die Suche nach der eigenen Identität und das Selbstständigwerden geht, ist eine Zeit wichtiger Erkundungen sowohl auf sozialer als auch auf körperlicher, psychischer und kognitiver Ebene. Die in dieser Phase auftretenden funktionellen Störungen beeinträchtigen die normale Entwicklung sowie das schulische, soziale und familiäre Leben tiefgreifend und sind Ursache von psychischem und körperlichem Leiden sowie von Stigmatisierung.

In der Vergangenheit wurden funktionelle Störungen aufgrund des nach Descartes dualistischen Verhältnisses von Körper und Geist missverstanden. Jüngste medizinische Erkenntnisse weisen bei Patient:innen mit funktionellen Störungen dagegen auf vielfältige Beeinträchtigungen nervöser, humoraler, zellulärer oder sogar epigenetischer Art hin(1). Diese Befunde unterstreichen die bidirektionale Beziehung zwischen Körper und Gehirn und liefern greifbare Beweise für die enge Verbindung zwischen diesen beiden Einheiten. Sie widerlegen damit die seit Jahrzehnten weit verbreitete Vorstellung, derartige funktionelle Störungen hingen ausschliesslich mit psychischen Problemen zusammen. Trotz dieser wissenschaftlichen Fortschritte sehen sich die Patient:innen jedoch weiterhin mit Kommentaren konfrontiert, die suggerieren, dass ihre Störungen rein psychisch bedingt seien, sie sie willentlich vortäuschen würden oder dass sie sich nur besser zusammenreissen müssten, um sie zu überwinden. Das durch anhaltende Skepsis innerhalb der Ärzteschaft mitverschuldete Leiden bleibt ein zentrales Problem für die von funktionellen Störungen betroffenen Patient:innen und verstärkt ihre schmerzlichen Erfahrungen und ihre Hilflosigkeit(2,3).

Um funktionelle Störungen zu verstehen und zu behandeln, müssen Ärzt:innen in der Lage sein, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso wie ein Grundwissen über gesellschaftliche Mentalitäten, Verhaltens- und Funktionsweisen in ihr diagnostisches Vorgehen einzubinden. Tatsächlich bringen die Patient:innen mit ihrer Angst eine ganze Kultur, eine eigene Sicht auf ihr Kranksein, mit in die Arztpraxis.

Die Geschichte der Medizin gilt heute als Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft. In die medizinische Fachwelt hat sie jedoch noch keinen nennenswerten Eingang gefunden und wird dort eher als Beiwerk betrachtet. In der Regel setzen sich Ärzt:innen viel zu wenig mit der Geschichte ihres Metiers auseinander. Das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil an der Ausrichtung der medizinischen Lehre. Im Namen eines betont «wissenschaftlichen» Medizinverständnisses wird der Aneignung einer Unmenge von oftmals rasch wieder vergessenem Lernstoff der Vorzug gegeben vor der Ausbildung der Urteils- und Reflexionsfähigkeit(4).

Die medizingeschichtliche Betrachtung erinnert uns an die Fehler, die «im Namen der Wissenschaft» begangen wurden, und appelliert an unsere Demut. Bei der Behandlung von Patient:innen mit funktionellen Störungen geht es auch um die Akzeptanz unserer Grenzen und darum, ein auf Wissen und therapeutisches Gelingen gründendes ärztliches Selbstverständnis zu entwickeln. Der Mut, Gelerntes in Frage zu stellen, den Betroffenen bei der Schilderung ihres Erlebens zuzuhören, nachzudenken und auf einer gemeinsamen medizinischen Entscheidungsgrundlage zusammen einen Weg hin zu einer Linderung oder gar Heilung zu finden – das sind die unabdingbaren Voraussetzungen, um solchen Patient:innen zu helfen.

Vor dem Hintergrund eines anhaltenden Dualismus zwischen evidenzbasierter und patientenzentrierter Medizin, zwischen der reduktionistischen Perspektive der Biomedizin und den holistischen Konzepten der integrativen Medizin, fällt es vielen Patient:innen mit funktionellen Störungen schwer, die benötigte Behandlung zu finden. Sie erfahren innerhalb des biomedizinischen Umfelds eine Entmenschlichung.

Angesichts der hohen Prävalenz solcher Störungen und ihrer individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen ist zwingend eine Verbesserung des Kenntnisstands, des klinischen Dialogs und des therapeutischen Vorgehens geboten.

Die vorliegende Ausgabe beleuchtet den aktuellen Ansatz bei funktionellen Störungen in der Jugendmedizin aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie veranschaulicht auf konkrete und pragmatische Weise die therapeutischen Kernpunkte, die sich einfügen in einen integrativen Ansatz an den Schnittstellen von Körper und Geist, des Individuums mit seinem Umfeld in unserer Gesellschaft.

Referenzen

  1. Kozlowska, Kasia MBBS, PhD. Stress, Distress, and Bodytalk: Co-constructing Formulations with Patients Who Present with Somatic Symptoms. Harvard Review of Psychiatry 21(6):p 314-333, November/December 2013. | DOI: 10.1097/HRP.0000000000000008
  2. Canna M, Seligman R. Dealing with the unknown. Functional neurological disorder (FND) and the conversion of cultural meaning. Soc Sci Med. 2020 Feb;246:112725. doi: 10.1016/j.socscimed.2019.112725. Epub 2019 Dec 9. PMID: 31911360.
  3. A.J. Carson, R. Brown, A.S. David, R. Duncan, M.J. Edwards, L.H. Goldstein, et al. Functional (conversion) neurological symptoms: research since the millenniumJ. Neurol. Neurosurg. Psychiatry, 83 (8) (2012), pp. 842-850
  4. IMBAULT-HUART, Marie-José. Où va l’histoire de la médecine ? In : Pour l’histoire de la médecine : Autour de l’œuvre de Jacques Léonard [online]. Rennes : Presses universitaires de Rennes, 1994 ISBN : 978-2-7535-2366-1.

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Übersetzer:
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Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr med. Anne-Emmanuelle Ambresin, Division interdisciplinaire de santé des adolescents (Disa), Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) et Université de Lausanne (UNIL)