Trauer ist keine Krankheit – Nein, Trauer ist eine natürliche, seelische und zuweilen auch körperliche Reaktion auf einen Verlust. Allerdings kann verdrängte oder nicht durchlebte Trauer tatsächlich krank machen. Deswegen ist es wichtig, dass der Trauer Raum gegeben wird, auch bereits in palliativen Situationen.
Der kürzlich verstorbene deutsch-griechische Psychotherapeuth Jorgos Canacakis, der als Autor und für seine Arbeiten zum Thema Trauertherapie bekannt wurde, betont: Die Fähigkeit zu trauern könne sich entwickeln und dies sei eine lebensnotwendige Aufgabe, um mit Verlusten lebensfördernd umgehen zu können. Er spricht von einer anspruchsvollen Dame: «Trauer will gesehen, gehört, ernst genommen, verstanden und akzeptiert werden, aber auch mitfühlend bestätigt werden.»(1)
Unter solchen Voraussetzungen des Gesehen-, Gehört- und Bestätigtwerdens kann sich Trauer in eine unglaublich lebendige und kreative Kraft wandeln, die ein gutes Weiterleben ermöglicht. Damit dies gelingt, braucht es häufig die Unterstützung von Fachpersonen: Von Trauerbegleiter:innen. Noch ist aber vielen Betroffenen und ihrem Umfeld, ja sogar in medizinischen Kreisen viel zu wenig bekannt, dass es Trauerbegleiter:innen gibt und wie diese arbeiten.
Das Kinderspital St.Gallen mit seinem Pädiatrischen Advanced Care Team (PACT) rund um PD Dr. med. Jürg Streuli übernimmt hier eine Vorreiterrolle. Nicole Spesny, dipl. Familientrauerbegleiterin, arbeitet dort in einer Teilzeit-Festanstellung Hand in Hand mit Mediziner:innen, Pflegefachpersonen, Seelsorger:innen und Psycholog:innen zusammen. Im Rahmen des PACT besucht sie Familien zu Hause.
Der Trauer Gestalt geben
Ein Vormittag im Frühling 2023. Diego (9) und Raffael (6) öffnen Nicole Spesny die Tür und nehmen sie herzlich in Empfang. Es ist Spesnys erster Besuch in der Familie. Fabio, der Bruder der beiden Jungen, wird sterben. Fabio ist Raffaels Zwillingsbruder und seit Geburt schwer krank. Die Geschwister wissen, dass er nicht mehr lange leben wird. Und trotzdem können sie die Tragweite nicht erfassen, nicht begreifen, was auf sie zukommt. Dafür wurde Nicole Spesny von den Ärzten als Familienbegleiterin vorgeschlagen.
«So lange das Kind noch lebt, verwenden wir oft nicht das Wort „Trauerbegleiterin“. Denn unsere Erfahrung zeigt: Wörter schaffen Realität. Und auch wenn die Realität des Todes und der Trauer unausweichlich ist, überwiegt oft bis zur letzten Sekunde die Hoffnung. Darum kann es hilfreich sein, eine Begleitung ohne das Wort Trauer zu starten, dies erleichtert den Einstieg in die Familie.»
Und so trinkt Nicole Spesny an jenem Morgen in Eschenbach erst mal einen Kaffee mit der Mutter der drei Brüder und erzählt, was Aufgabe und Funktion einer Trauerbegleiterin ist. Sie erklärt, dass sie für die Familie da ist, um die Eltern, aber vor allem auch die Kinder altersgerecht auf das Sterben und den Tod vorzubereiten, um Ressourcen zu aktivieren, Abschiedsmomente mitzugestalten und wertvolle Erinnerungen zu schaffen an die in dieser Ausnahmesituation sonst wohl niemand denken würde.
«Unsere Aufgabe ist es, die Trauer zu wandeln. Wir arbeiten sehr viel kreativ, denn mit Kindern kann man nicht lange über die Trauer sprechen und im Gespräch wird sie weder fassbar noch greifbar. Deswegen geben wir der Trauer und all den damit verbundenen Gefühlen zusammen mit den Kindern auf kreative Weise eine Gestalt.»
Mit der Wutmaschine Dampf ablassen
Sie zeichnen zum Beispiel eine Wutmaschine mit Ventilen. Jedes Ventil zeigt eine Reaktion auf, die das Kind kennt, wenn es von Wut und Ohnmacht übermannt wird. Nicole Spesny hilft dann, Strategien zu finden, um diese Reaktionen konstruktiv zu nutzen. Auch eine lebensgrosse, auf Packpapier gemalte Silhouette der Kinder hilft ihnen, ihre Gefühle zu benennen und einzuordnen. Wo sitzen sie und wie fühlen sie sich an? Mit Buntstiften bewaffnet machen sich die Kinder ans Werk.
«Oft ist es aber auch eine ganz praktische Unterstützung die wir leisten», erzählt Nicole Spesny. «Zum Beispiel abklären, welcher Kindersarg in Frage kommt oder ob der Papi das verstorbene Kind selber mit dem Privatauto ins Krematorium fahren darf.»
Wie wichtig für sie und ihre Kinder die Trauerbelgeitung war, erzählt auch die Mutter von Fabio, Raffael und Diego. Da der kranke Fabio bereits im Vorfeld von PD Dr. med. Jürg Streuli und seinem Team betreut wurde, haben sie vom Angebot einer solchen Begleitung erfahren und durften diese auch in Anspruch nehmen. Dies war nicht nur für sie als Mutter besonders wertvoll:
«Auch die Jungs konnten sich Nicole gegenüber sofort öffnen. Sie hatten eine sehr enge Beziehung zu Fabio. Sie wussten, dass Fabio viel zu kämpfen hat und dass sein Leben kürzer sein wird. Ich habe viel mit ihnen darüber gesprochen. Und trotzdem habe ich gemerkt: Auch wenn ich immer ein offenes Ohr für sie hatte – sie getrauten sich gewisse Fragen nicht zu stellen, die ihnen aber auf dem Herzen lagen. Denn sie haben natürlich auch gespürt, dass es mir als Mami mit der Situation nicht gut geht, dass ich stark leide. Ich gehe davon aus, dass sie mich schützen wollten vor noch mehr Tränen und noch mehr Sorgen. Darum war es für uns so sehr wertvoll, dass Nicole gekommen ist und uns begleitet hat. Sie haben mit ihr gebastelt, gezeichnet, gebacken, gespielt, Bücher angeschaut und auf alle Fragen Antworten bekommen. Dadurch konnten sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Sie konnten auf diese Weise auch dann zeigen, was sie beschäftigt, wenn sie mal grad nicht darüber sprechen mochten.»
Das Umfeld mitbetreuen
Zu den Aufgaben einer Trauerbegleiterin gehört auch, dass sie das soziale Umfeld mit begleitet, beispielsweise Lehrer:innen coacht. So kommt es auch vor, dass sie beispielsweise die hinterbliebenen Geschwisterkinder beim ersten Schulbesuch nach dem Verlust begleitet und dort nicht nur für das betroffene Kind da ist, sondern auch der Klasse und den Lehrer:innen hilft, das Unfassbare begreiflich zu machen. «Manchmal braucht es aber auch den Weg über die Schule, um überhaupt als Trauerbegleiter:in in eine Familie reinzukommen. Oder eben, im besten Fall wie bei meiner Tätigkeit, den Weg über die Ärzte. Denn Trauerbegleitung ist immer Teamarbeit!», betont Nicole Spesny.
Auch Daniela Spitz – sie ist Pflegefachfrau Kinder HF und arbeitet bei der Kinderspitex «Verein Joel Mühlemann» sowie auf der Neonatologie im Spital Winterthur – weiss, wie wertvoll die Zusammenarbeit von Trauerbegleiter:innen mit dem medizinischen Personal, mit Psycholog:innen und Seelsorger:innen ist. Bei ihrer palliativen Spitex-Tätigkeit war ihr Einsatz früher mit dem Tod des Kindes beendet. Dies machte ihr zu schaffen. Nachdem sie vorher täglich bei den betroffenen Familien zur Unterstützung und Pflege ein und aus gegangen war, wollte sie den Weg mit den Familien auch weiter beschreiten. Sie spürte, wie wertvoll es ist, wenn man nach dem Tod in der Begleitung dabei bleiben kann. Deswegen absolvierte auch sie die Ausbildung zur dipl. Familientrauerbegleiterin.
Beide Frauen unterstreichen, dass eine pathologische oder traumatische Trauer in die Hände von Psycholog:innen und Psychiater:innen gehört. Dass aber bei Trauer in ihrer gesunden und natürlichen Ausdrucksweise Trauerbegleiter:innen ein vertieftes Fachwissen mitbringen und oft mehr Möglichkeiten haben, da sie bei den Betroffenen zu Hause arbeiten, im familiären und geschützten Umfeld, und auch sonst auf sehr viele ergänzende Möglichkeiten der Begleitung zurückgreifen können.
Auch praktische Unterstützung gehört dazu
Wie auch bei Liams Familie. Der 5-jährige wird an einem Hirntumor sterben. Auch er war im Kinderspital St. Gallen und wurde danach vom PACT zu Hause betreut. Daniela Spitz schildert, dass Liams Mutter bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, dass ihr Sohn sterben wird. Doch kaum war Liam morgens um fünf Uhr verstorben, war das Bedürfnis der Mutter nach einer Trauerbegleitung gross und Daniela Spitz wurde sofort dazugeholt.
Die Mutter hatte das dringende Bedürfnis ins Handeln zu kommen und wollte den Sarg anmalen. Auch hier sieht man: «Manchmal braucht es eine ganz praktische Unterstützung. Während das Grosi am Morgen Farben einkaufen ging, habe ich mit meinem Privatauto den Kindersarg beim Bestatter abgeholt, weil die Familie den Leichenwagen noch nicht vor Ort haben wollte.»
Und dann wurden alle aktiv, kamen ins Handeln. Genau darum geht es, wenn man davon spricht, der Trauer einen Ausdruck, eine Gestalt zu geben: Das Inlay des Sarges wurde herausgerissen. Mit der Unterstützung von Daniela Spitz hat die Familie stattdessen Liams Kuscheldecke mit Heissleim in den Sarg geklebt. Die Mutter hat eine Bordüre mit seinen Legomännchen gestaltet.
Der kleinen Schwester den Tod erklären
Und während die Erwachsenen ihre Liebe für das verstorbene Kind und ihre Trauer auf diese Weise ausdrücken konnten, fragte Daniela Spitz, ob sie mit der dreijährigen Schwester ins Zimmer zu ihrem verstorbenen Bruder darf. Denn genau so wichtig, wie der Trauer einen Ausdruck geben zu können, ist es für Kinder, das Sterben und den Tod ihrem Alter entsprechend zu begreifen. Die Idee, man müsse sie vor dieser harten Realität schützen oder es könne ein traumatisches Erlebnis sein, wenn sie ein Geschwister oder auch ein Elternteil tot sehen, ist noch hartnäckig in vielen Köpfen verankert. Dabei spürt jedes Kind in diesem tosenden Sturm, dass die Wellen hoch schlagen. Ihre Fantasie ist oft schlimmer als die Realität. Und wenn man sie nicht mit ins Boot holt, fühlen sie sich aussen vorgelassen, vertrauen schlimmstenfalls nicht mehr in ihre eigene Wahrnehmung und Gefühle. Beim Begreifen geht es deswegen ganz oft im wahrsten Sinne des Wortes ums be-GREIFEN. Und so führt Daniela Spitz die dreijährige Erin behutsam an ihren toten Bruder hin. «Fühl mal, seine Hand ist jetzt kalt und deine, die ist warm.» Sie erklärt, warum das so ist, gemeinsam beobachten sie, dass er nicht mehr atmet, spüren, dass sein Herz nicht mehr schlägt. Und danach gehen sie zum Papi. Er kann in diesem schwierigen Moment zusammen mit dem Grosi der Kleinen Stabilität vermitteln.
Liams Mutter betont rückblickend, wie wichtig die Präsenz von Daniela Spitz während der palliativen Zeit aber vor allem auch danach war: «Sie hatte immer das richtige Gespür, was wir gerade brauchten. Wann es wichtig war, dass sie uns Eltern und Liam im Zimmer begleitete, wann sie uns alleine lassen konnte und sich dafür um Erin kümmern und mit ihr spielen sollte. Oder auch, ob es nötig war, dass sie mit Liam Zeit verbrachte. Ich finde es wichtig, dass dieses Angebot noch breiter bekannt wird und es auch andere dazu anregt, eine solche Begleitung zu beanspruchen.
Kinder trauern anders als Erwachsene
Die Reaktionen von Kindern, die einen Verlust erleben, können aufs Umfeld oft irritierend wirken. Wenn sie beispielsweise in einem Moment tieftraurig am Bett der verstorbenen Schwester sitzen und im nächsten fröhlich draussen rumtoben, als wäre nichts geschehen. Oder wenn sie in der Schule völlig unauffällig weiter funktionieren und man ihnen die Trauer nicht anmerkt.
Bei Kindertrauer spricht man deswegen häufig von «Pfützenspringen». Kinder springen in die Trauerpfütze rein und gleich danach wieder raus. Dieses Bild will vermitteln, dass die Trauer nur so gross ist, wie das Begreifen des Verlustes. Ein kleines Kind kann den Tod noch nicht in seiner ganzen Tragweite erfassen, versteht das Ausmass des «nie wieder» noch nicht. Und so nimmt für Kinder die Grösse der Trauer sinnbildlich in etwa die Grösse einer Pfütze an. Je grösser die Kinder, desto grösser die Pfütze, bis sie zu einem See wird und im Teenageralter manchmal gar zu einem scheinbar unüberwindbaren Ozean heranwächst. Dies bedeutet aber nicht, dass Kindertrauer «klein» ist und keine Aufmerksamkeit oder Begleitung braucht. Es erklärt lediglich, dass die Trauerreaktionen von Kindern anders ausfallen können als bei Erwachsenen und dass bei jedem neuen Begreifen der Trauer, diese sich auch wieder neu oder anders zeigen kann, manchmal auch Jahre später noch. Zum Beispiel wenn ein Kind eingeschult wird und den Verlust in einer neuen, erweiterten Dimension begreift. Wenn beim Besuchstag alle anderen Kindern den Papi und das Mami dabei haben und die eigene Mutter fehlt. Oder es machen sich ein, zwei Jahre nach dem Verlust bei einem Kind plötzlich körperliche Symptome bemerkbar, ein auffälliges Verhalten in der Schule usw. Oftmals denkt dann niemand mehr an eine Trauerreaktion. Dabei kann diese auch Jahre später immer wieder zu Tage treten und wieder eine Phase der Trauerbegleitung notwendig machen.
Aufgaben-Modelle statt linearer Tauermodelle
Trauerbegleitung ist eine noch junge Disziplin. Das Verständnis von Trauer hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Ausgehend von den Modellen der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross ging man auch in der Trauer von einem linearen Prozess in Phasen aus und von der Wichtigkeit des „Loslassens“. Sind alle Phasen überstanden, glaubte man, ist auch die Trauer vorbei. Heute spricht man hingegen von Trauerfacetten oder Aufgaben, die nicht linear, sondern durchaus gleichzeitig erlebt werden können und man weiss, dass diese nicht abgehakt werden können.
« „Phasen“ implizieren eine gewisse Passivität – sie widerfahren dem Trauernden, der nichts weiter tun muss, als sie zu durchlaufen. „Aufgaben“ dagegen korrespondieren mit Freuds Konzept der „Trauerarbeit“ – der Trauernde muss und kann selbst etwas tun, um diese schwierige Lebensphase zu bewältigen.»(2)
Viele der heutigen Trauermodelle bauen auf dem Modell des amerikanischen Psychologieprofessors und Trauerforschers William Worden auf. Dieser definierte vier Aufgaben: Den Verlust als Realität akzeptieren, den Schmerz verarbeiten, sich an eine Welt ohne die verstorbene Person anpassen, sowie eine dauerhafte Verbindung zu der verstorbenen Person inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben finden.
Bemerkenswert ist hier vor allem der Wandel vom Gedanken des Loslassens hin zur Aufgabe des Verbundenbleibens mit der verstorbenen Person. Auch Trauerexperte Roland Kachler(3) betont die Wichtigkeit, mit den Verstorbenen verbunden zu sein und ihnen einen neuen Platz zuzuordnen. Genau dabei brauchen viele Trauernde fachliche Unterstützung und Begleitung, wenn es z.B. darum geht, Rituale zu finden, die Halt und Verbundenheit schenken und in den Alltag integriert werden können.
Mit einem Handschuh den Tod erklären
Zuhause beim sterbenden Fabio ist klar, dass die Endphase naht. Seit einem Tag ist er sediert. Dieser Moment ist immer ein sehr schwieriger für die Familie, ein erstes fast schon endgültiges Abschiednehmen, denn ab jetzt ist ihr Kind nicht mehr ansprechbar.
Deswegen kommt Nicole Spesny mit ihrem Trauerkoffer vorbei. Sie zaubert einen durchsichtigen Plastikhandschuh hervor. Bevor sie ihn überzieht, malt sie auf ihre Hand ein Herz, das durch den Handschuh hindurchschimmert. Sie erklärt Fabios Brüdern, dass die Hand mit dem Herz das ist, was einen Menschen ausmacht: Wie er lacht, wie er strahlt, wie er spricht, wie er fühlt, wie er handelt und vieles mehr. Man nennt es auch Seele. Im geschützten Rahmen, im eigenen Kinderzimmer, erklärt sie Diego und Raffael, dass Fabio inzwischen sehr schwer atmet und bald sterben wird. Dass sein Atmen zwar rasselt und komisch klingt, aber Fabio keine Schmerzen hat und keine Angst haben muss, weil er Medikamente bekommt. Sie erklärt, dass der Körper jetzt langsam kühler wird, zuerst die Arme und Beine, weil das Herz nicht mehr so kräftig pumpen kann. Sie bereitet die Kinder darauf vor, dass Fabio dann ganz aufhören wird zu atmen und man merkt, wie das Leben, die Seele, aus dem Körper geht. Dies ist der Moment, bei dem die Trauerbegleiterin ihre Hand aus dem Handschuh zieht. Der Handschuh bleibt „leblos“ auf dem Tisch liegen – er symbolisiert das Erdenkleid, welches Fabio zu klein geworden ist und welches er jetzt nicht mehr braucht – ihre Hand mit dem Herz bewegt sie nach oben.
Trauerbegleiter:innen geben hier den Kindern aber keine Antworten vor, was nun nach dem Tod geschieht, wo die Seele nun hingeht. Sondern stellen Fragen: «Was denkst Du, wo ist Fabio jetzt?» Der neunjährige Diego hatte im Vorfeld eine klare Vorstellung: «Wenn die Seele geht,» erklärte er Nicole Spesny, «dann kommt man in den Himmel. Aber zuvor darf man alles loswerden, was einen belastet und schwer ist. Man kann den ganzen Rucksack mit dem Gepäck abstellen. Fabio kann hier seinen Rollstuhl und all seine Hilfsmittel loswerden», so seine Worte. «Und dann kommt man in den Himmel und wird als erstes umarmt!»
Es sind solche Momente, welche die Arbeit von Nicole Spesny und Daniela Spitz unbezahlbar machen. Und bei so intensiven Gedanken und Gefühlen braucht es danach manchmal eine handfeste Tätigkeit. Trauerbegleiterin Nicole Spesny ist ursprünglich gelernte Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin und kennt das aus eigener Erfahrung. Vor 16 Jahren hat sie ihren Mann und Vater ihrer Kinder verloren. Damals hat sie jeweils ihre Wut und Verzweiflung am Hefeteig ausgelassen. Und so entführt sie Raffael und Diego kurzerhand in die Küche zum Teig kneten. «Diesen kann man quälen, ohne dass man jemanden verletzt. Im Gegenteil, je mehr und kräftiger man ihm zusetzt, desto besser wird er. So entsteht aus der Wut etwas Neues, etwas Gutes.» Ein wunderbares Beispiel, wie man Wut und Trauer wandeln kann.
Der Verein familientrauerbegleitung.ch schliesst in der Deutschschweiz eine Lücke
Als Fabio dann die Welt verliess, durften seine Brüder zu ihm. Zusammen mit ihren Eltern lagen sie am Bett des verstorbenen Geschwisters. Da kam es zu einer kleinen Irritation für Diego. Als er realisiert, dass der tote Körper hier bei ihm liegt und nicht, wie von ihm erwartet, vor der Himmelstüre stehen wird. In solchen Situationen gilt es zu erklären, was mit Fabios Körper geschehen wird.
Mechthild Schroeter-Rupieper, Trauerbegleiterin, Autorin von zahlreichen Trauerratgebern und Kinderbüchern zu den Themen Sterben, Tod und Trauer, erzählte von einem Fall, bei dem der Sohn des Verstorbenen zwar mit zur Beerdigung durfte, aber keine Erklärungen erhielt. Als er sah, wie die Urne des Vaters zum Grab getragen wurde, fragte er ganz entsetzt, ob da jetzt nur der Kopf drin sei? Logisch, die Grösse würde passen. Das zeigt eindrücklich, dass Kinder nicht ihrer Fantasie überlassen werden sollten.
Mechthild Schroether Rupieper hat schon vor Jahren in Deutschland ein Institut für Familientrauerbegleitung aufgebaut und ist Wegbereiterin im Europäischen Raum für die Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen. Von ihr inspiriert wurde im Jahr 2016 in der Schweiz der Verein familientrauerbegleitung.ch gegründet. Vorher gab es hierzulande lediglich Angebote für Erwachsene oder psychologische Hilfe. In Zeiten, in denen Kinder-und Jugendpsychologen überrannt werden und Psychiatrien überfüllt sind, ist es umso wertvoller, dass es auch in der Schweiz immer mehr ausgebildete Familientrauerbegleiter:innen gibt. Der Verein familientrauerbegleitung.ch ist in der gesamten Deutschschweiz aktiv und bietet einen Fachpool von Begleitpersonen. Diese unterstützen Familien sowohl in palliativen oder Akut-Situationen wie auch nach einem Todesfall, manchmal auch Jahre später. In finanziellen Notsituationen hilft der Verein ausserdem bei der Mitfinanzierung der Trauerbegleitung.
Alle Angebote und Trauerbegleiter:innen sind auf der Website www.familientrauerbegeleitung.ch zu finden.
Nicole Spesny und Daniela Spitz sind beide Fachpoolmitglieder des Vereins familientrauerbegleitung.ch. Die meisten Familientrauerbegleiteri:innen arbeiten vor allem zuhause in den betroffenen Familien, teilweise in eigenen Praxen, häufig auch in Zusammenarbeit mit Schulsozialhilfen, Gemeinden, Kinderärzt:innen, Institutionen, verschiedenen Organisationen usw.
Denn, stirbt ein Elternteil oder ein Geschwisterkind, hinterlässt dieser Verlust nicht nur eine riesige Lücke, er wirbelt ein ganzes Familien- und Bezugssystem durcheinander. Deswegen ist die Teamarbeit und Vernetzung aller einbezogenen Fachpersonen so wichtig.
Der Verein familientrauerbegleitung.ch setzt genau dort an: das Thema Trauer enttabuisieren, die Gesellschaft über Kindertrauer informieren, Pädagog;innen, Pflegepersonen, Mediziner:innen aber auch Bestatter usw. mit Vorträgen oder Fachtagungen schulen, die Zusammenarbeit mit anderen Fachpersonen und die Vernetzung fördern.
In Trauergruppen erleben Kinder, dass sie nicht alleine sind
Ein weiteres, sehr wichtiges Angebot sind die kostenlosen, regionalen Kinder- und Jugendtrauergruppen. Für dieses ehrenamtliche Engagement ist der Verein letzten Dezember mit dem Prix benevol im Bereich Gesellschaft ausgezeichnet worden. Die SRF-Sendung «Schweiz aktuell» hat daraufhin die Kindertrauergruppe Wohlen und eine nach einem Suizid hinterbliebene Mutter mit ihren beiden Kindern besucht und porträtiert. Dies sind erste und wertvolle Schritte, um den Verein und dessen Angebote bekannter zu machen.
In den Trauergruppen des Vereins familientrauerbegleitung.ch erlernen die Kinder und Jugendlichen spielerisch und kreativ Strategien im Umgang mit ihrer Trauer und erleben ihre Selbstwirksamkeit. Sie erfahren Stärkung im Austausch mit anderen Betroffenen. Nur schon zu wissen, dass es anderen genau so ergeht und man mit seinem Schicksal nicht alleine ist, kann eine grosse Erleichterung und Hilfe sein. Die Kinder verstehen sich auch ohne Worte und müssen ihre vielfältigen Trauerreaktionen weder rechtfertigen noch erklären. Dieses leicht zugängliche und kostenlose Angebot stärkt aber nicht nur die Kinder, sondern entlastet auch die Eltern.
Auch am Unisversitäts-Kinderspital Zürich wurde das Bedürfnis der betroffenen Kinder erkannt, nicht alleine zu bleiben mit ihrer Trauererfahrung.
Psychologische Trauerbegleitung am Universitäts-Kinderspital Zürich
Am Kompetenzzentrum für Pädiatrische Palliative Care des Kinderspitals Zürich entstand deshalb die Idee, für betroffene Kinder und Jugendliche eine Möglichkeit zu schaffen, sich untereinander kennenzulernen.
Am 20. März 2013 lud das Kispi zu einem ersten Treffen ein. Auf Anhieb meldeten sich 14 Kinder zwischen 4 und 15 Jahren an, die ein Geschwister verloren hatten. Dieses Angebot wird seither zwei Mal pro Jahr in verschiedener Form angeboten. Ob ein Clown mit Musik und Zauberei durch den Nachmittag führt, eine Maltherapeutin mit den Kindern Bilder und Skulpturen gestaltet, die Psycholog:innen mit Jugendlichen beim Foxtrail gemeinsam Spuren suchen oder eine Sozialpädagogin den Kindern die Schätze des Waldes näher bringt – jedes Mal kommen sich die Kinder und Jugendlichen schnell näher.
Eine kurze Vorstellungsrunde schafft zu Beginn der Treffen Orientierung darüber, wer in der Familie schon frühzeitig verstorben ist. Es ist immer wieder beeindruckend, wie auch schüchtern wirkende oder sehr junge Kinder sich rasch in die Gruppe einbringen. Bereits nach kurzer Zeit scheint es jeweils, als ob sich die Gruppe schon lange kennen würden. Die Verbundenheit unter den betroffenen Kindern ist sehr berührend und verleiht jedem Treffen eine ganz besondere Magie. Manchmal entstehen – abseits von den Erwachsenen – spontane Gespräche über die verstorbenen Geschwister oder einen verstorbenen Elternteil. Bei manchen entstehen aus diesen Nachmittagen Kinder- und Erwachsenenfreundschaften, die über die Zeit hinweg bestehen bleiben.
Aktuelle Angebote und Daten sind auf der Webseite ersichtlich unter Palliative Care (uzh.ch).
Trauerbegleiterinnen Daniela Spitz und Nicole Spesny im Interview
Anhand der Fallbeispiele haben wir bereits einen Einblick in Eure Tätigkeit erhalten. Was ist im Trauerprozess besonders wichtig?
Daniela Spitz: Ganz oft geht es darum, die Geschwindigkeit rauszunehmen, den Familien zu sagen: Jetzt haben wir Zeit. Wenn man ihnen Zeit gibt, entwickeln sich bei vielen Betroffenen noch Ideen, auf die sie sonst nicht gekommen wären. Häufig geht es auch um „Raum halten“ oder einen kleinen Anstoss geben, damit bewirkt man schon sehr viel.
Nicole Spesny: Wenn ich Kindern und Erwachsenen den Trauerprozess erkläre, dann gehe ich auch auf die verschiedenen Trauertypen ein. Die einen reden, andere bewegen sich lieber, wieder andere können sich gestalterisch ausdrücken oder müssen sich ablenken. Wichtig ist, das Verständnis für die unterschiedlichen Trauerreaktionen innerhalb einer Familie zu wecken.
Spitz: Und manchmal geht es auch darum, sie darin zu bestärken, dass sie auch wieder Freude erleben dürfen. Viele empfinden dies nun als Tabu. Ich erkläre, dass die Trauer nicht weniger wird, wenn sie auch wieder Freude haben. Die Trauer bleibt gleich, aber das Drumherum darf wieder grösser werden.
Wie unterscheidet sich Eure Arbeit von derjenigen der Psycholog:innen?
Spesny: Trauerbegleitung ist ein sehr niederschwelliges Angebot. Viele Familien kostet der Gang zu Psychologen oder Psychiater:innen immer noch grosse Überwindung, als Trauerbegleiter:innen können wir da eine Lücke schliessen. Wir sehen uns aber ganz sicher nicht als Konkurrenz, sondern als wertvolle Ergänzung.
Spitz: Trauer ist keine Krankheit, das ist sicher ein wesentlicher Unterschied zu psychiatrischen Diagnosen. Wenn kein Trauma vorliegt, keine pathologische oder erschwerte Trauer, ist man bei einer Trauerbegleiter:in in besten Händen. Natürlich sind wir sensibilisiert auf diese Themen und kennen unsere Grenzen. Im besten Fall haben wir bereits eine Psycholog:in im Rücken.
Spesny: Ja, bei Fabios Familie beispielsweise sind zusätzlich alle Familienmitglieder auch in Behandlung bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin und wir sind ergänzend im Boot. Es ist auch so, dass nicht jede und jeder im Familiensystem das Gleiche braucht. Einige benötigen psychologische Unterstützung, andere eine Psychoedukation – und dies können wir Trauerbegleiter:innen wunderbar leisten.
Spitz: Ein wichtiger Unterschied ist sicher auch das Thema «Distanz». Natürlich müssen auch wir eine professionelle Distanz einhalten, aber wir dürfen beispielsweise auch mal eine Umarmung schenken. Wir bewegen uns zuhause in den Familien und in ihrem Umfeld und haben diesbezüglich andere Möglichkeiten, so dass die Familien in ihren dunkelsten Momenten die nötige Unterstützung auf allen Ebenen erfahren dürfen.
Noch ist Trauerbegleitung Vielen nicht bekannt. Woran mangelt es?
Spesny: Wichtig wäre, dass die Krankenkassen unsere Arbeit decken und wir nicht mehr auf Spendengelder angewiesen wären, so dass wirklich alle Familien Zugang zu Trauerbegleitung erhalten. Wenn Ärzte und Ärztinnen unser Angebot kennen und in Zukunft Trauerbegleitung auch verschreiben, dann wäre schon ein grosser Schritt gemacht!
Wie erlebt ihr bisher die Zusammenarbeit mit Kinderärzt:innen und anderen Fachpersonen?
Spitz: Ich habe bis jetzt, wenn eine Zusammenarbeit stattfand, nur sehr gute Erfahrungen gemacht.
Spesny: Auch ich habe nur gute Erfahrungen gemacht, weil wir im PACT eine Familie immer ganzheitlich betreuen: medizinisch, psychologisch, pflegerisch und eben auch mit Trauerbegleitung. Dies ist eine sehr wertvolle Erfahrung. Und die Eltern merken, wenn das Vertrauen im Team da ist. Gerade in der Trauer sind Eltern sehr sensibel auf solche Themen und spüren den Zusammenhalt.
Spitz: Leider wissen viele Kinderärtz:innen gar nicht, dass es uns gibt. Oft fehlt noch das Netzwerk, es ist ja auch ein eher neues Gebiet.
Spesny: Ich bin überzeugt, diejenigen die unsere Arbeit kennen, schätzen dieses Angebot sehr. Viele wären froh, wenn sie ihren Patient:innen eine Trauerbegleitung empfehlen könnten. Der Verein familientrauerbegleitung.ch ist hier sicher eine wichtige Anlaufstelle für Ärzt:innen und hilft, passende Begleiter:innen in den Regionen zu vermitteln.
Spitz: Und tatsächlich gibt es inzwischen sogar einige Krankenkassen, die etwas an eine Begleitung bezahlen.
Was ist Euer Wunsch für die Zukunft?
Spesny: Dass wir viel öfter Familien ganzheitlich in Teams begleiten dürfen, als Teil von einem Ganzen, zusammen mit Mediziner:innen, Pflegenden, Spitex, Schulen, Institutionen und Angehörigen!
Referenzen
- Canacakis, J. (2011). Ich sehe Deine Tränen. Lebendigkeit in der Trauer. Das Lebens- und Trauerumwandlungsmodell (LTUM). (Neuauflage). Kreuz Verlag. S. 175
- Worden, J.W. (2018). Beratung und Therapie in Trauerfällen Ein Handbuch (5., unveränderte Auflage). Hofgrefe Verlag Bern. S. 44
- Kachler, R. (2017). Meine Trauer wird dich finden. (1. Auflage). Herderverlag